Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: ArbeitsweltAnforderungen an Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt

Wie kann Arbeit gesundheitsförderlich gestaltet werden? Über Chancen und Herausforderungen aus Sicht von Arbeitgebern und Mitarbeitenden sprechen Expertinnen und Experten des Präventionsforums 2023 „Anforderungen an Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt von morgen“.

Wie Prävention und Gesundheitsförderung dazu beitragen können, die Arbeitswelt menschengerecht, barrierefrei und klimasensibel zu gestalten, erläutern Dr. Stefanie Bühn, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG); Prof. Dr. Monika Eigenstetter, Hochschule Niederrhein; Dr. Janice Hegewald, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und Prof. Dr. Reinhard Burtscher, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).

Wie kann eine wirksame und nachhaltige Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt erreicht werden? Die Rolle der Arbeitgeber:

Dr. Stefanie Bühn, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit: Arbeitsgeberinnen und Arbeitgeber stehen vor großen Herausforderungen: neben ihrem Tagesgeschäft sollen sie sich an die aktuellen und zukünftigen klimawandelbedingten Gesundheitsrisiken anpassen (Adaptation), Klimaneutralität und Umweltfreundlichkeit vorantreiben (Mitigation) und – wo möglich – die gesellschaftliche Transformation sozial gerecht mitgestalten. Zur Identifikation und Umsetzung guter Lösungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im Klimawandel ist die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure für Arbeits- und Gesundheitsschutz wichtig. Kurz- und mittelfristig können Anreize und Hilfestellungen insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) unterstützen wie eine Sammlung guter Praxisbeispiele zu wirksam umgesetzten Klimaschutz und -anpassungen.

Dringender Handlungsbedarf besteht aktuell beim Thema Hitzeschutz: hier müssen Schutzkonzepte insbesondere für vulnerable Beschäftigtengruppen in allen Branchen, aber vor allem dort, wo draußen gearbeitet wird, wirksam umgesetzt werden. Eine klimasensible Führungskultur und Organisationsentwicklung können langfristig zu resilienteren Unternehmen und gesünderen Beschäftigten führen, denn viele Klimaschutzmaßnahmen haben positive Effekte für die Gesundheit, auch Mehrgewinne oder Co-Benefits genannt. So können zum Beispiel Fehlzeiten reduziert werden. Die Verbindung von Nachhaltigkeit und klimasensibler Gesundheitsförderung kann weitere Vorteile haben: beispielsweise können Kennzahlen zur Gesundheitsberichterstattung aus dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) in die Nachhaltigkeitsberichterstattung einfließen.

Damit gesundheitsförderliches und klimaschützendes Verhalten möglich ist, müssen innerbetrieblich die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden wie zum Beispiel durch gesunde und nachhaltige Ernährungs- und Fortbewegungsangebote. Eine auch von Führungskräften aktiv gelebte Präventionskultur, die die Krisen unserer Zeit adäquat adressiert, kann in Zeiten des Fachkräftemangels die Arbeitgeberattraktivität steigern.

Prof. Dr. Monika Eigenstetter, Hochschule Niederrhein: Zunehmende Wichtigkeit erhält im Arbeitskontext das Thema der „Psychischen Belastungen und Beanspruchungen“. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind verpflichtet, in Gefährdungsanalysen psychische Gefährdungen zu integrieren, gleichwertig zu Gefährdungen durch physikalische Einwirkungen, Chemikalien, schwere Lasten oder ähnliches. Bei psychischen Gefährdungen müssen Mitarbeitende einbezogen werden, da nur sie beurteilen können, ob beispielsweise eine Arbeit in der vorgegebenen Zeit stressfrei zu bewältigen ist, oder welche Belastungen durch Kunden und vorhandene Arbeitsprozesse auftreten.

Für einen ersten Einblick in das Vorgehen einer psychischen Gefährdungsanalyse bietet sich der Erklärfilm der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie, Arbeitsprogramm Psyche, an. Der Aufbau eines betrieblichen Gesundheitsmanagements ist auf jeden Fall sinnvoll. Am Beispiel der Digitalisierung wird schnell klar, wie wichtig Analysen und darauf basierende Arbeitsgestaltungsmaßnahmen sind. Manchmal bringt eine Technologie zwar Erleichterungen in den Arbeitsprozess, gleichzeitig vermindern sich möglicherweise Handlungsspielraum und wünschenswerte Flexibilität. Daher ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden bei der Auswahl und Einführung der Technologien immer beteiligt werden. Ein weiteres aktuelles Thema ist mobile Arbeit, die man genauer betrachten sollte, denn sie bringt Gefährdungen durch Entgrenzung der Arbeit.

Dr. Janice Hegewald, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Um eine wirksame und nachhaltige Prävention und Gesundheitsförderung zu erreichen, müssen sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber für eine betriebliche Gesundheitskultur einsetzen. Anzustreben sind verhältnisorientierte Maßnahmen, die für gesunde betriebliche Rahmenbedingungen sorgen und auf der Organisationsebene ansetzen. Solche Maßnahmen sollen gemeinsam mit den Betriebsärztinnen und -ärzten, den Akteuren des betrieblichen Gesundheitsmanagements und vor allem partizipativ mit den Beschäftigten geplant und umgesetzt werden.

Eine menschengerechte Gestaltung der beruflichen Anforderung und gesundheitsförderliche Organisation der Arbeit sorgen dafür, dass gesundheitsgefährdende Bedingungen minimiert werden. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, die mit der Arbeit verbundenen Gefährdung der Beschäftigten im Rahmen der Gefährdungsermittlung zu beurteilen und die erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen zu ergreifen.

Liegen beispielsweise Gefährdungen durch körperliche Tätigkeiten wie das Heben und Tragen schwerer Lasten vor, werden diese Gefährdungen oft mit den Leitmerkmalmethoden (LMM) ermittelt und beurteilt. Daraus ergeben sich wertvolle Anhaltspunkte für Maßnahmen der Arbeitsgestaltung und Präventionsmaßnahmen, um arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen zu vermeiden. Dazu gehört unter anderem auch das Angebot der betriebsärztlichen Beratung der Beschäftigten im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Zusätzlich können niedrigschwellige Angebote, wie ein gesundes Essensangebot am Arbeitsplatz, sich positiv auf die Gesundheit aller Beschäftigten auswirken.

So kann eine verhaltensorientierte betriebliche Gesundheitsförderung, die auf das Gesundheitsverhalten von Individuen abzielt, Gesundheitskompetenzen vermitteln oder auf die Gesundheitsbedürfnisse einzelner Gruppen eingehen. Leider erreicht sie nicht immer diejenigen, die am meisten davon profitieren könnten – daher ist eine regelmäßige Überprüfung der Maßnahmen ist wichtig, um die Ziele zu reflektieren und die Maßnahmen anzupassen.

Prof. Dr. Reinhard Burtscher, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin: In Zeiten von Fachkräftemangel sollten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verstärkt daran interessiert sein, dass ihre Beschäftigten gesund sind und bleiben. Wie gelingt gesundes Arbeiten? Zunächst müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Maßnahmen ermöglichen und fest in die Unternehmenskultur verankert werden können.

Die Arbeitswelt ist von Barrieren durchzogen: bauliche Barrieren, kommunikative Barrieren, digitale Barrieren, soziale Barrieren und so weiter. Diese Barrieren abzubauen, ist ein Teil einer wirksamen und nachhaltigen Gesundheitsförderung. Bauliche Hindernisse zu identifizieren und anzupassen, erscheint einfach. Aber wenn es um Einstellungen und Haltungen als soziale Barrieren in Unternehmen geht, dann sind Informations- und Aufklärungsworkshops nur ein erster Schritt hin zu einer gesundheitsförderlichen Unternehmenskultur.

Verschiedenheiten ernst zu nehmen und darüber respektvoll zu sprechen, ist wichtig. Deshalb betrifft inklusives Arbeiten nicht nur behinderte Menschen, sondern adressiert darüber hinaus Personengruppen wie beispielsweise ältere Beschäftigte, Frauen und Männer mit Vereinbarkeitsproblemen oder Menschen mit Sprachschwierigkeiten aufgrund ihrer Herkunft. Letztlich begünstigt das Eingehen auf unterschiedliche Bedarfe die Motivation und Leistungsbereitschaft bei den Beschäftigten. Gleichzeitig können Fehlzeiten oder eine Mitarbeiterfluktuation verringert werden.


Wie kann eine wirksame und nachhaltige Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt erreicht werden? – Die Rolle der Mitarbeitenden:

Dr. Stefanie Bühn, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in ihrem Arbeitsumfeld klimabedingten Gesundheitsgefahren teilweise länger und stärker ausgesetzt als die übrige Bevölkerung, da einige Tätigkeiten trotz der Klimaveränderungen beispielsweise auch bei Extremwetterlagen geleistet werden müssen. Besonders gefährdet sind Menschen, die körperlich anstrengende Arbeit und/oder Arbeit im Freien verrichten und dort vor allem jene, die weitere Vulnerabilitäten wie eine chronische Erkrankung mitbringen.

Studien zeigen, dass besonders betroffene Gruppen die reale Gefährdung, die beispielsweise mit extremer Hitze einhergeht, unterschätzen. Sie brauchen zielgruppenspezifische Informationen über die Zusammenhänge von Klimawandel und Gesundheit und zu kontextspezifischen Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung. Gute Klimagesundheitskommunikation am Arbeitsplatz kann die Akzeptanz von Maßnahmen für Klimaschutz und -anpassung, im Sinne einer gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung, fördern. Auch Instrumente wie Betriebsvereinbarungen oder Unterweisungen können Klarheit und Sicherheit im Umgang mit Klimawandelrisiken bieten.

Gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen sollten mit den Beschäftigten partizipatorisch erarbeitet werden, denn sie können mit Zielkonflikten einhergehen: So kann beispielsweise die Verschiebung der Arbeitszeiten bei Hitze zu einer schlechteren Vereinbarkeit von Beruf und Familie führen. Neben dem Wissen, welche Co-Benefits sich durch klimafreundliches Verhalten für die Gesundheit ergeben können, geht es auch darum, die geeigneten Anreize und betrieblichen Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz aktiv anzuregen, wie eine klimafreundliche, pflanzenbasierte Gemeinschaftsverpflegung oder die Förderung der Nutzung eines Jobrads. Viele Arbeitnehmende sind bereits motiviert – durch die arbeitgeberseitige Förderung von klimaschützendem Engagement können sie sich als selbstwirksam und handlungskompetent erleben, was wiederum ihre mentale Gesundheit und Resilienz fördern kann.

Prof. Dr. Monika Eigenstetter, Hochschule Niederrhein: Bei den Gefährdungsbeurteilungen der psychischen Belastungen sollten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aktiv mitgestalten. Wichtig ist, dass die Maßnahmen gemeinsam entwickelt, damit sie implementiert werden. Aber auch für die eigene Resilienz kann viel getan werden: Dazu zählen gesundes Essen mit viel Gemüse, ausreichend Schlaf, Sport und Entspannungsübungen. All das unterstützt die Regeneration von Körper und Psyche, denn ein gesunder Geist braucht einen gesunden Körper!

Kleine Auszeiten sind im Alltag möglich, selbst wenn es nur 10-minütige Atemübungen sind. Gesundes Essen kann man sich an den Arbeitsplatz mitbringen. Und man kann öfter mal das Auto stehen lassen und das Fahrrad nehmen: das bringt körperliche Bewegung. Und natürlich kann auch „Digital Detox“ für den einen oder die andere erleichternd wirken.

Dr. Janice Hegewald, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Bei der gesundheitsförderlichen Gestaltung der Arbeit und der Entwicklung von Präventionsprogrammen werden Nachhaltigkeit und Wirksamkeit am ehesten erzielt, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aktiv beteiligt werden und sind. Die Bedürfnisse und Präferenzen der Beschäftigten sollten so weit wie möglich berücksichtigt werden. Ohne die Akzeptanz der Beschäftigten werden nachhaltige Veränderungen nicht erreicht oder nicht adäquat umgesetzt. Die Beschäftigten sollten daher befähigt und ermutigt werden, ihre gesundheitlichen Bedürfnisse gegenüber dem Unternehmen zu kommunizieren.

Die effektive Gestaltung einer betrieblichen Gesundheitskultur erfordert darüber hinaus eine grundlegende Gesundheitskompetenz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Bereitschaft, diese weiterzuentwickeln. So sind Beschäftigte besser in der Lage zu erkennen, wie sich die eigene Arbeit – positiv oder negativ – auf die eigene Gesundheit auswirkt. Gesundheitskompetenz und ein Grundwissen über die gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Gesundheit bei der Arbeit sind notwendige Fähigkeiten, um die betriebliche Gesundheitskultur auch von der Basis her aufzubauen – sie sind für die Sicherheit im Betrieb unabdingbar.

Prof. Dr. Reinhard Burtscher, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin: Inklusive Arbeit wird wesentlich von äußeren Faktoren beeinflusst. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind dafür verantwortlich, dass passende Rahmenbedingungen und Strukturen im Betrieb vorhanden sind. Man spricht hier von Verhältnisprävention, die Gesundheit fördert und absichert. Eine gesunde Arbeitswelt zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen wohl fühlen können. Auf das Individuum bezogen, geht es um ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten.

Wirksame und nachhaltige Gesundheitsförderung zielt deshalb auch auf Verhaltensprävention. Jeder und jede Mitarbeiterin und Mitarbeiter kann selbst Verantwortung übernehmen, um eine gesunde Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Diese Eigenverantwortung beginnt bei der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und endet bei der Aufmerksamkeit für Kolleginnen und Kollegen. Zu den häufig genannten Belastungen zählen beispielsweise eine hohe Arbeitsverdichtung, Optimierungsdruck, Informationsflut, digitaler Stress oder Anforderungen an Erreichbarkeit und Flexibilität.

Wenn eine gesundheitliche Gefährdung droht, dann ist eine Überlastungsanzeige bei der Arbeitgeberin oder beim Arbeitgeber sinnvoll. Diese Meldung ist gesetzlich nicht festgelegt, kann jedoch helfen, Gegenmaßnahmen anzuregen. Letztlich ist aber die Rolle als eigenverantwortliche Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer nur wechselseitig mit der Verantwortung der Unternehmensleitung für die Mitarbeitenden zu betrachten.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

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BVPG-Interview mit Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Professur für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln und Keynote Speakerin des Präventionsforums 2023: „Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt: mehr Forschung und Partizipation!”

BVPG-Interview mit Dr. Elke Ahlers, Leiterin des Referats „Qualität der Arbeit” der Hans-Böckler-Stiftung und Referentin auf dem Präventionsforum 2023: „Betriebliche Gesundheitsförderung muss auch bei den Ursachen für Belastungen ansetzen.”

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Dr. Stefanie Bühn | Gesundheitswissenschaftlerin; seit 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG) im Handlungsfeld Planetary Health in der Arbeitswelt. Aktuelle Projekte: „Klima wandelt Arbeit“ im BMAS-Programm Arbeit: Sicher und Gesund (ASUG), in dem gemeinsam mit Akteur:innen der Arbeitswelt Lösungsansätze für ein sicheres, gesundes und menschengerechtes Arbeiten im Klimawandel entwickelt werden sollen. Gemeinsam mit Maike Voss, geschäftsführende Direktorin des Centre for Planetary Health Policy (CPHP), hat sie 2023 ein Gutachten „Klimawandel und Gesundheit – Auswirkungen auf die Arbeitswelt“ erstellt.

Prof. Dr. Monika Eigenstetter | Seit 2009 an der Hochschule Niederrhein als Professorin tätig, seit 2019 für Arbeitspsychologie und CSR Management am Fachbereich Textil- und Bekleidungstechnik. 2007 promovierte sie mit einem Thema zum verantwortungsvollen Entscheiden und Handeln an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo sie seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Arbeitsschwerpunkte: Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, Human Resources sowie Unternehmensethik und soziale Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility). 2013 gründete sie mit zwei Kollegen das EthNa Kompetenzzentrum CSR, das Fragestellungen der Unternehmensethik und der Nachhaltigkeit vorrangig in der textilen Kette bearbeitet. Seit 2016 leitet sie das Forschungsinstitut A.U.G.E. (Arbeitssicherheit, Umweltschutz, Gesundheitsförderung und Ethik).

Dr. Janice Hegewald | Epidemiologin; Leiterin der Fachgruppe 3.1 „Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Co-Sprecherin des Arbeitskreises „Epidemiologie in der Arbeitswelt“ der Fachgesellschaften DGAUM, DGEpi, DGSMP und GMDS. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsepidemiologie Forschung zur Ätiologie und Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen und kardiometabolischen Erkrankungen.

Prof. Dr. Reinhard Burtscher | Seit 2003 Professor für Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB); Vizepräsident für Forschung, Transfer und Weiterbildung; Mitglied im Institut für Soziale Gesundheit. Arbeitsschwerpunkte: Inklusives Arbeiten und berufliche Integration; Betriebliche Gesundheitsförderung; Gesundheitsbildung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, Teilhabeforschung.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Arbeitswelt„Betriebliche Gesundheitsförderung muss auch bei den Ursachen für Belastungen ansetzen“

Mit der fortschreitenden Digitalisierung und dem Wandel der Arbeitswelt hin zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft haben sich neue Arbeitsformen entwickelt. Mit Dr. Elke Ahlers, Leiterin des Referats „Qualität der Arbeit, Hans-Böckler-Stiftung, und Referentin auf dem Präventionsforum 2023, sprechen wir über Risiken und Potenziale neuer Arbeitsformen.

Frau Dr. Ahlers, im Mittelpunkt des Präventionsforums 2023, das die BVPG im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durchführte, stand das Thema „Anforderungen an Gesundheitsförderung und Prävention in der Arbeitswelt von morgen: menschengerecht, barrierefrei und klimasensibel“. Sie haben mit einem Fachvortrag Ihre Expertise beim Präventionsforum eingebracht. Worüber haben Sie referiert?

Ich habe über die Potenziale neuer Arbeitsformen gesprochen – und dabei vor allem die Perspektive der Mitarbeitenden in den Vordergrund gestellt. Also was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich von ihrer Arbeit wünschen und was nötig ist, um Arbeit gesundheitsförderlich zu gestalten.


Welche Bedürfnisse und Werte sind Mitarbeitenden mit Blick auf ihr Arbeiten wichtig?

Einerseits wirken etwa mit der Digitalisierung zurzeit verschiedene soziale und wirtschaftliche Einflüsse auf den Arbeitsmarkt ein, die die Arbeitsbedingungen beeinflussen. Zugleich haben die Beschäftigten z. B. aufgrund des demografischen Wandels mit zunehmender Frauenerwerbstätigkeit und alternden Belegschaften veränderte Wünsche an ihre Arbeit.

Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind gut ausgebildet und arbeiten sehr gern, aber sie wollen flexibler, selbstbestimmter und kürzer arbeiten – also mit geringerer Wochenarbeitszeit. Zudem würden die Menschen gerne sinnstiftender arbeiten und sich mit eigenen Ideen beteiligen. Und natürlich wünschen sie, dass sie selbst und ihre Arbeit wertgeschätzt werden – was gleichzeitig ein wichtiger Faktor für die Gesundheit der Beschäftigten ist.


Wie reagiert die Arbeitswelt auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden?

Haupttreiber für den Wandel der Arbeitswelt sind die Digitalisierung und die Flexibilisierung, aber auch, wie genannt, die höhere Bildung der Beschäftigten und die veränderte Beschäftigtenstruktur mit einem höheren Altersdurchschnitt, immer mehr Frauen, jungen Eltern und der großen Gruppe der Babyboomer, die bald in den Ruhestand geht.

Die Arbeitswelt reagiert auf diese ökonomischen, technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Anforderungen mit vielfältigen und flexibleren Arbeitsarrangements. Sie werden vielfach unter dem Sammelbegriff New Work subsumiert – obwohl dieser Begriff eigentlich ein eigenes philosophisches Arbeitskonzept meint.

In der Praxis sind mit dem umgangssprachlich verwendeten Sammelbegriff New Work zumeist folgende Arbeitsformen gemeint:

  • hybrides Arbeiten, also die Kombination aus Home-Office und Anwesenheit im Betrieb, auch bekannt als orts- und zeitflexibles Arbeiten,
  • Projekt- oder Teamarbeit, ein bekanntes, sich ausbreitendes Konzept, in dem verstärkt selbstorganisiert und ergebnisorientiert gearbeitet wird,
  • agiles Arbeiten, das von den Mitarbeitenden eine hohe Flexibilität, schnelle Handlungsfähigkeit und die Bereitschaft verlangt, innovativ zu denken und inzwischen branchenübergreifend Einzug in die Unternehmen findet.

All diesen Arbeitsformen sind das selbstorganisierte und eigenverantwortliche Arbeiten gemein. Man findet sie vor allem in höherqualifizierten Angestelltenberufen mit einem hohen Digitalisierungsgrad. Zwar gibt es keine Daten darüber, wie viele Menschen in solch flexiblen Arbeitsarrangements tätig sind, jedoch lässt sich ein Trend feststellen, dass sich das selbstorganisierte und flexible Arbeiten mit all seinen Chancen und Risiken branchenübergreifend ausbreitet.


Welche Chancen und Risiken bergen die neuen Arbeitsformen für die Gesundheit der Mitarbeitenden?

Mit Blick auf die Chancen und Risiken zeigt sich eine ambivalente Situation: Einerseits bieten die neuen Arbeitsformen enormes Potenzial für gutes und gesundes Arbeiten. Dazu gehören Rahmenbedingungen, wie man sie sich generell für alle Beschäftigten wünschen würde, etwa: orts- und zeitflexibles Arbeiten, freies, kreatives, eigenverantwortliches und ergebnisorientiertes Arbeiten, Beteiligung und Partizipation der Beschäftigten im Arbeitsprozess, Sinnstiftung und Identifikation mit gemeinsam entwickelten Arbeitszielen.


Und wie sieht die Umsetzung in der Praxis aus?

Modellhafte Vorstellungen und die betriebliche Realität liegen oft weit auseinander. Flexible Arbeitsarrangements brauchen ein betriebliches Setting, um funktionieren zu können. Dazu gehören ausreichende Personalkapazitäten, eine vertrauensvolle Unternehmenskultur und ein angemessenes Führungsverhalten.

In vielen Betrieben sind Personalengpässe wegen des Fachkräftemangels an der Tagesordnung, aber ebenso, weil Personaldecken betriebswirtschaftlich zu knapp kalkuliert sind. Die neuen Arbeitsformen können wegen der hohen Eigenverantwortung und Selbstorganisation dann leicht dazu führen, die Mitarbeitenden zu überfordern, z. B. durch Mehrarbeit, Arbeitsintensivierung und Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit.

Ebenso können die hohe Identifikation der Beschäftigten mit ihrer Arbeit, aber auch Teamdruck sowie das Bedürfnis der Beschäftigten, hochwertige Arbeitsergebnisse zu präsentieren, zu Überlastung führen. Bei agiler Arbeit können überdies regelmäßige „Sprints“, in Form einer etappenbasierten Erfolgskontrolle von Zwischenergebnissen, Druck und Angst erzeugen. Auch verlieren Beschäftigte bedingt durch hohe kundenorientierte Arbeitsanforderungen an Arbeitszeitsouveränität.

So können die wunderbaren Attribute Flexibilität und Agilität bei fehlenden Personalressourcen wie ein Bumerang als Risiken und Belastungen für die Beschäftigten zurückschwingen – und somit Treiber für Entgrenzung, Überforderung und Verschleiß sein.


Wie können Prävention und Gesundheitsförderung auf die von Ihnen genannten Herausforderungen reagieren?

Für die Prävention ist es schwierig, dieses Dilemma, in dem die Beschäftigten sich befinden, aufzugreifen. Wir wissen, dass Beschäftigte mit Blick auf Überforderung und Selbstausbeutung für Akteure der betrieblichen Gesundheitsprävention schwer anzusprechen sind: diese Beschäftigten sehen sich in der Sachzwanglogik von Termindruck, Personalengpässen, Kundenorientierung und wechselnden arbeitsorganisatorischen Anforderungen gefangen und betrachten dadurch die Überforderung in der Arbeit als ein sehr individuelles Problem des Versagens. Sie selbst lösen das Dilemma eher durch Mehrarbeit als durch die Einsicht, dass hier präventive Maßnahmen hilfreich wären.


Was ist konkret zu tun, um gesundheitlichen Folgen vorzubeugen?

Zunächst geht es darum, bei den Ursachen der gesundheitlichen Risiken anzusetzen – und das ist vielfach die Überlastung mit Blick auf Arbeitsmenge, Leistungsanforderungen und Zeitdruck.

Daher sollten Prävention und Gesundheitsförderung stärker als bisher die betrieblichen und individuellen Ressourcen in den Blick nehmen und sich fragen, ob diese ausreichen, um die Arbeitsanforderungen gesundheitsschonend auszuüben:

  • Ist die Arbeitsmenge mit den vorhandenen Personalbudgets auf Dauer wirklich zu bewältigen?
  • Sind Zeitvorgaben realistisch, um die Arbeitsaufgaben zu bewältigen?
  • Sind Leistungsanforderungen, wie permanente Serviceorientierung und Konkurrenzfähigkeit zu anderen Unternehmen, auf Dauer realistisch?
  • Ist die soziale Unterstützung durch Führungskräfte oder Kollegen ausreichend?
  • Gibt es Bedarf an Weiterbildung oder Anpassungsqualifizierung und haben die Beschäftigten genug Zeit, sich in der Arbeitszeit so weiterzubilden, dass sie ihren Aufgaben tatsächlich gewachsen sind?

Neben der Frage der Ressourcen sollten die Beschäftigte über ein Empowerment lernen, auf Augenhöhe mit Führungskräften zu sprechen. Dies ist wichtig, um bei den Führungskräften oder dem Management nicht nur ihre Potenziale, sondern zur Vorbeugung von gesundheitlichen Risiken auch selbstbewusst und vorausschauend die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit aufzuzeigen.

Notwendig ist also eine Sensibilisierung für krankmachende Arbeitsbedingungen, für Zusammenhänge zwischen (überfordernder) Leistungskultur im Team, Arbeitsorganisation, Arbeitsmenge, Konkurrenzdruck und dauerhafter Überforderung.


Welche Rahmenbedingungen sind notwendig, damit die Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz umgesetzt werden kann?

Beschäftigte brauchen rechtlich verbindliche und angstfreie Partizipationsmöglichkeiten sowie Regulierungen, die sie dabei unterstützen, selbst Einfluss auf Arbeitsmenge und -gestaltung nehmen zu können. Zu einem veränderten Miteinander im Unternehmen sind auch Führungskonzepte erforderlich, die stärker auf Vertrauen und Wertschätzung statt auf Kontrolle setzen.

Daher sollte auch ein prozessorientiertes betriebliches Gesundheitsmanagement stärker als bisher mit dem Management und der damit verbundenen Leistungskultur in dem Unternehmen verzahnt sein, um zu hinterfragen, ob Leistungserwartungen und Ressourcenausstattung realistisch sind.

Prävention muss schon im Management und in der Organisation mitgedacht werden. Es kann nicht sein, dass ein Unternehmen einerseits mit höchster Wettbewerbskultur, Flexibilität und Kosteneffizienz wirbt und die Beschäftigten andererseits mit dem entstehenden hohen Arbeitsdruck allein lässt.


Was genau ist zu tun?

Zu diesem prozesshaften Gesundheitsmanagement gehören regelmäßige und partizipative Gefährdungsbeurteilungen mit dem Ziel, Arbeitsbelastungen zu erheben und gemeinsam nach Ursachen zu suchen, um Belastungen über dieses Verfahren schrittweise zu reduzieren. Dafür ist es sinnvoll, die Beschäftigten viel stärker in die Beurteilung der Arbeitsbelastungen einzubeziehen.

Es braucht mehr organisatorische Gestaltungslogik in der betrieblichen Gesundheitsprävention. Präventionskonzepte, die übergreifend die individuelle und die betriebliche Ebene berücksichtigen, sind zukunftsfähig, wenn sie:

  • die Leistungskulturen berücksichtigen, in deren Kontext die Beschäftigten arbeiten, wie Wettbewerbsdruck oder enge Deadlines,
  • durch eine gesundheitsförderliche Führung begleitet werden und
  • die Beschäftigten sensibilisieren und befähigen, auch Eigenverantwortung für ihre Arbeit und ihre Gesundheit zu übernehmen und – wenn nötig – Grenzen zu setzen.


Die Fragen stellte Inke Ruhe, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

Beitrag von Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“.

Interview mit Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Leiterin der Abteilung Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln und Keynote-Speakerin des Präventionsforums 2023: „Mehr Forschung und mehr Partizipation!“.

Weitere Informationen zum Präventionsforum erhalten Sie hier.

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Dr. Elke Ahlers | Seit 2013 Leiterin des Referats „Qualität der Arbeit“ am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung mit den Schwerpunkten: Wandel der Arbeitswelt, Betriebliche Gesundheitsprävention, Flexibilisierung von Arbeit, selbstorganisierten und ergebnisorientierten Arbeitsformen sowie der Vermeidung von gesundheitlichen Risiken in der flexiblen Arbeit.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt:Arbeitswelt„Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt: mehr Forschung und Partizipation!“

Die Arbeitswelt befindet sich im Umbruch und stellt Mitarbeitende und Arbeitgeber vor neue Herausforderungen. Was das für die Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt bedeutet, erläutert Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Leiterin der Abteilung Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln und Keynote-Speakerin des Präventionsforums 2023.

Am 14. September 2023 hat das Präventionsforum, das die BVPG im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durchführt, stattgefunden. Im Mittelpunkt der diesjährigen Veranstaltung stand das Thema „Anforderungen an Gesundheitsförderung und Prävention in der Arbeitswelt von morgen: menschengerecht, barrierefrei und klimasensibel“. Frau Professorin Niehaus, Sie haben den einführenden Fachvortrag beim 8. Präventionsforum gehalten. Wie lässt sich der Wandel in der Arbeitswelt wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge beschreiben? Wie wirken sich diese Veränderungen auf Mitarbeitende und Unternehmen aus?

Hilfreich für die Auseinandersetzung ist ein pragmatischer empirischer Zugang. Wir können uns Daten anschauen aus der Europäischen Union. Was hat sich in den letzten zehn Jahren in der Arbeitswelt verändert? Hier ist der im Mai 2023 erschienene Bericht der European Agency for Safety and Health at Work sehr aufschlussreich. Folgende Trends des Wandels in der Arbeitswelt werden mit Hilfe von großen Befragungen der Erwerbsbevölkerung oder spezifischer Akteure in Unternehmen ermittelt (Occupational safety and health in Europe – state and trends 2023):

  1. Wandel von Industrie zu Dienstleistungssektoren
  2. Zunahme der Arten von Arbeit, die nicht an den Standort des Arbeitgebers gebunden sind
  3. Weniger klare Arbeitgeber-Arbeitnehmerbeziehungen
  4. Eine größere Vielfalt an nicht standardisierten Vertragsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
  5. Veränderungen der Struktur der Arbeitskräfte
  6. Die Verschiebung der erforderlichen Qualifikationen zu höheren Qualifikationen
  7. Die Alterung der Arbeitnehmer
  8. Technologische Entwicklungen wie die Digitalisierung aber auch die Einführung von Biotechnologie und anderen neuen Verfahren.

Neben der Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsortes wirken sich die Digitalisierung und die Einführung der künstlichen Intelligenz in der Arbeitswelt aus. Zukünftig werden also höhere Qualifikationen benötigt. Die Beschäftigtenstruktur ändert sich hinsichtlich der Zusammensetzung: Es wird mehr Frauen, mehr ältere Beschäftigte – was gleichzeitig auch mehr Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen bedeutet – und mehr Personen mit Migrationshintergrund geben. Diese veränderte Beschäftigtenstruktur gilt es bei Prävention und Gesundheitsförderung zu berücksichtigen.


Und was bedeutet dies für die Gesundheit der Mitarbeitenden? Welche besonderen Herausforderungen oder vielleicht auch Chancen ergeben sich dadurch?

Als größte Herausforderung wird der Klimawandel angesehen. Hier werden gerade die vulnerablen Gruppen u. a. im Sinne von Intersektionalität (Alter, Gender, gesundheitliche Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen, niedriger sozialer Status) anfälliger sein für psychische und physische Gesundheitsprobleme. Auch von den negativen Auswirkungen der Extremereignisse wie Wirbelstürme oder Überschwemmungen sind diese Gruppen besonders betroffen.

Chancen werden insbesondere im Sinne von Co-benefits gesehen, beispielsweise in Maßnahmen zur Förderung aktiver Mobilität auf dem Weg zur Arbeit oder pflanzenbasierte Ernährung in der Kantine. Sie wirken sich sowohl positiv auf die Gesundheit als auch positiv mit Blick auf das Klima aus.

Die Daten der European Agency for Safety and Health at Work zeigen, dass Risikofaktoren wie wiederholte Hand- und Armbewegungen und auch das Bewegen schwerer Lasten sowohl in der Industrie als auch in Dienstleistungssektoren zunehmen. Klassische ergonomisch belastende Arbeiten haben nach wie vor nicht an Relevanz verloren. Zusätzlich gewinnen Belastungen durch psychische und emotionale Herausforderungen sowie geringere körperliche Aktivität für bestimmte Arbeitskontexte an Bedeutung. Kurz zusammengefasst könnte man die Herausforderung auf die Formel bringen „Von Sicherheitsrisiken zu Gesundheitsrisiken“!


Wo können Prävention und Gesundheitsförderung ansetzen, um den Bedürfnissen der Mitarbeitenden und den Bedarfen der Arbeitgeber gerecht zu werden?

Um im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung voranzukommen, sind alle gefordert: die Politik, die Sozialversicherungsträger, die Gewerkschaften, Führungskräfte, betriebliche Akteure, Beschäftigte und das gesamte soziale Umfeld. Als Wissenschaftlerin spreche ich mich für mehr empirische Forschung sowie für die Einbindung – die Partizipation – von Betroffenen, insbesondere vulnerablen Gruppen, in politische Prozesse und bei der Entwicklung und Gestaltung von Prävention und Gesundheitsförderung aus.


Die Fragen stellte Inke Ruhe, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

Beitrag von Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“.

Weitere Informationen zum Präventionsforum erhalten Sie hier.

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Seit 2016 führt die BVPG das Präventionsforum im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durch. Das Präventionsforum ist eine jährliche Veranstaltung, zu der die NPK bundesweit agierende Organisationen und Verbände einlädt, die sich maßgeblich in der Gesundheitsförderung und Prävention engagieren.

Prof. Dr. Mathilde Niehaus | Seit 2002 Leiterin der Abteilung für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln. Zuvor ordentliche Professorin an der Universität Wien und Gastprofessorin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Gesundheit, Prävention und return to work, Beschäftigungsfähigkeit, Diversity- und Inklusionsmanagement. Aktuelle Projekte: ”Mit Role Models Inklusion in Arbeit stärken”, ”Sag ich´s? – chronisch krank im Job”.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Klimawandel„Für die Gesundheitsgefahren des Klimawandels sensibilisieren“

Basis der Beratungen beim Präventionsforum 2022 war das in einem partizipativen Prozess entwickelte Papier zur Gesundheits-, Sicherheits- und Teilhabeförderung in Lebenswelten im Kontext klimatischer Veränderungen (kurz: NPK-Papier Klima und Gesundheit). Dr. Monika Kücking, GKV-Spitzenverband, erläutert Ziele und Inhalte des Papiers.

Das Präventionsforum, das die BVPG im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durchführt, hatte 2022 „Klimawandel und Gesundheit – Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten“ als Schwerpunktthema.

Die Nationale Präventionskonferenz verabschiedet Handlungsgrundlagen zur gesundheitsorientierten Bewältigung des Klimawandels

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt der Klimawandel die größte Gesundheitsbedrohung für die Menschheit dar. Er bringt neue Gesundheitsprobleme mit sich, verstärkt bestehende und hat enorme Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Hierauf sollte reagiert werden. Klimawandelbedingte Gesundheitsgefahren können durch klimaschützende und -anpassende Maßnahmen vermindert oder verhindert werden. Dies kann angesichts der enormen Herausforderung nur durch einen gesamtgesellschaftlichen und politikfeldübergreifenden Ansatz sowie ein breites bürgerschaftliches Engagement gelingen. Auch Gesundheitsförderung und Prävention können hier einen Beitrag leisten. Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel sind in allen Lebenswelten wie Kommunen, Schulen und Betrieben als wichtige Aufgaben zu verankern und umzusetzen. Dabei müssen Mensch, Natur und Umwelt im Sinne eines „One Health“-Ansatzes systemisch betrachtet werden.

Die Nationale Präventionskonferenz (NPK) möchte dazu beitragen, den mit dem Klimawandel einhergehenden gesundheitlichen Risiken frühzeitig durch lebensweltbezogene Aktivitäten zur Prävention, Gesundheits-, Sicherheits- und Teilhabeförderung zu begegnen. Dabei soll die beste verfügbare Evidenz zu wirksamen sowie zweckmäßigen Maßnahmen und Vorgehensweisen genutzt werden.

Daher haben wir, die stimmberechtigten Mitglieder der NPK, uns 2022 unter Einbezug der beratenden Mitglieder sowie weiterer Organisationen und Verbände intensiv dem Thema Klimawandel und Gesundheit gewidmet. Gemeinsam haben wir in einem partizipativen Prozess Handlungsmöglichkeiten, -notwendigkeiten und insbesondere Unterstützungsbeiträge aufgabenbezogen zusammengetragen und transparent gemacht. Das entsprechende Papier mit dem Titel „Prävention, Gesundheits-, Sicherheits- und Teilhabeförderung in Lebenswelten im Kontext klimatischer Veränderungen“ (kurz: NPK-Papier Gesundheit und Klima) wurde auf dem Präventionsforum 2022 diskutiert, auf Basis der Erkenntnisse des Forums finalisiert und im November 2022 nunmehr von der NPK beschlossen.

Ziel des NPK-Papiers Gesundheit und Klima ist es zum einen, in Deutschland für Gesundheitsförderung und Prävention Verantwortliche und Zuständige für die Gesundheitsgefahren des Klimawandels zu sensibilisieren. Zum anderen soll es zu einer Intensivierung präventiver Anstrengungen sowie zu einer verbesserten Koordination beitragen. Aus Sicht der NPK ist ein abgestimmtes Vorgehen unerlässlich, um die gesellschaftliche Herausforderung zu meistern, Gesundheitsgefahren durch den Klimawandel vorzubeugen und klima- sowie gesundheitsschützend zu agieren.

Eine erfolgreiche Bewältigung erfordert jedoch ein Zusammenwirken, das über die in Deutschland für Gesundheitsförderung und Prävention verantwortlichen und zuständigen Akteure hinausgeht. Aufgrund der Größe und Komplexität dieser Aufgabe kommt es darauf an, dass sich alle Träger öffentlicher Aufgaben zusammen mit Wirtschaft, Medien, Zivilgesellschaft engagieren. Besonders wichtig ist dabei ein hohes Maß an Transparenz und kontinuierlicher Abstimmung, um koordiniert und zielgerichtet zu handeln sowie Synergien auszuschöpfen. Einen Beitrag dazu soll das Papier der NPK leisten. Es skizziert Unterstützungsbeiträge, die die Mitglieder der NPK und die von ihnen repräsentierten Organisationen zur Bewältigung des Klimawandels und damit verbundener Gesundheitsgefahren beisteuern können.

Mit dem NPK-Papier Gesundheit und Klima möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dass Leistungen der Gesundheitsförderung und Prävention nicht nur die individuelle Gesundheit verbessern, sondern auch zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen beitragen. Dies kann aus unserer Sicht gelingen, wenn vorhandene Strukturen, Prozesse, Projekte und Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention bei der Planung und Umsetzung klimaschützender bzw. anpassender Aktivitäten berücksichtigt und Anknüpfungspunkte sowie Synergien genutzt werden.

Zum Beispiel bieten kommunale bzw. stadtteilbezogene Netzwerke wie das Gesunde Städte Netzwerk oder Gesundheitsregionen die Möglichkeit, Themen bzw. Maßnahmen zu Klimaschutz und -anpassung praxisnah zu diskutieren, partizipativ zu entwickeln, aufeinander abzustimmen und nachhaltig zu verankern. Gleichzeitig sollten klimaschützende und -anpassende Elemente in bestehende verhältnis- und verhaltenspräventive, gesundheits-, sicherheits- und teilhabeförderliche Strukturen, Netzwerke, Prozesse, Projekte und Maßnahmen integriert und entsprechender Austausch gefördert werden. So können beispielsweise Maßnahmen zu einem gesundheitsfördernden Ernährungsverhalten zugleich die Klima- und die CO2-Bilanz sowie den Wasser- und Flächenverbrauch verbessern helfen.

Dabei kann die Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit den Erfolg wesentlich unterstützen. Ziel muss es sein, dass Aktivitäten partizipativ gestaltet werden, sodass sie für alle Menschen auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Bestehende Barrieren müssen abgebaut bzw. reduziert werden, um gesunde Umwelt- und Lebensverhältnisse für alle Menschen zu schaffen. Auch mit dem Klimaschutz und der Klimaanpassung verbundene finanzielle Belastungen müssen fair verteilt und sozial ausgewogen gestaltet werden.

Das NPK-Papier Gesundheit und Klima, das im November 2022 von der NPK verabschiedet worden ist, soll fortan zu einem verstärkten Handeln führen. Wir freuen uns, wenn viele Akteure die Verbreitung des Papiers unterstützen und sich am weiteren Prozess auch mit eigenen Beiträgen beteiligen. Sie sind herzlich eingeladen, den Link zum NPK-Papier weiterzugeben und gemeinsam mit uns auf die Umsetzung der Empfehlungen hinzuwirken. Künftig sollen auch die Bundesrahmenempfehlungen nach § 20d Abs. 3 SGB V Aussagen zur Verhinderung und Minderung klimawandelbedingter Gesundheitsgefahren im Kontext lebensweltbezogener Gesundheitsförderung und Prävention treffen.

Auch wenn das Thema Klimawandel im Gesundheitswesen insgesamt noch relativ neu ist, zeigte uns unter anderem das Präventionsforum 2022, dass sich neben der NPK bereits viele Akteure im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention auf den Weg gemacht haben. Neben dem gemeinsamen Handeln müssen gleichermaßen eigenverantwortlich notwendige Schritte im jeweiligen Einflussbereich eingeleitet und verfolgt werden.

Der GKV-Spitzenverband als stimmberechtigtes Mitglied der NPK unterstützt die Verhütung der mit dem Klimawandel einhergehenden Gesundheitsgefahren im Bereich der Prävention zum Beispiel, indem er den Leitfaden Prävention, der als Grundlage für die Präventionsangebote der Krankenkassen dient, weiterentwickelte. Krankenkassen erhalten mit der Neufassung des Leitfadens erweiterte Handlungsmöglichkeiten zur Unterstützung der Versicherten, der kommunal Verantwortlichen sowie der Träger von Lebenswelten und Betrieben zu gesundheitlich relevanten Aspekten des Klimaschutzes und der Klimaanpassung.


Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Klimawandel: Interview mit Prof. Dr. Susanne Moebus, Direktorin des Instituts für Urban Public Health am Universitätsklinikum Essen und Keynote-Speakerin des Präventionsforums 2022: „Klimawandel und Gesundheit können zum positiven Narrativ werden“.

Interview mit BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB: „Es muss einfacher werden, einen gesunden Alltag zu leben“.

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Dr. rer. pol. Monika Kücking | Seit 2008 Leiterin der Abteilung Gesundheit beim GKV-Spitzenverband. Zuvor Abteilungsleiterin beim Verband der Angestellten-Krankenkassen und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen.

Die Nationale Präventionskonferenz (NPK) wurde mit dem am 25.07.2015 in Kraft getretenen Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention eingeführt. Ihre Aufgabe ist es, eine nationale Präventionsstrategie zu entwickeln und fortzuschreiben (§§ 20d und 20e SGB V). Träger der NPK sind die gesetzliche Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung sowie die soziale Pflegeversicherung, vertreten durch ihre Spitzenorganisationen: GKV-Spitzenverband, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau sowie Deutsche Rentenversicherung Bund. Sie bilden die NPK als Arbeitsgemeinschaft nach § 94 Absatz 1a SGB X.

Der GKV-Spitzenverband ist der Verband aller gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen. Als solcher gestaltet er den Rahmen für die gesundheitliche Versorgung in Deutschland; er vertritt die Kranken- und Pflegekassen und damit auch die Interessen der 73 Millionen Versicherten und Beitragszahlenden auf Bundesebene gegenüber der Politik und gegenüber Leistungserbringenden wie der Ärzte- und Apothekerschaft oder Krankenhäusern. Der GKV-Spitzenverband übernimmt alle nicht wettbewerblichen Aufgaben in der Kranken- und Pflegeversicherung auf Bundesebene.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Klimawandel„Klimawandel und Gesundheit können zum positiven Narrativ werden“

Gesundheitswissenschaftlerin und Epidemiologin Prof. Dr. Susanne Moebus, Direktorin des Instituts für Urban Public Health am Universitätsklinikum Essen und Keynote Speakerin des Präventionsforums 2022 „Klimawandel und Gesundheit – Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten“, über die gesundheitlichen Auswirkungen der klimatischen Veränderungen.

Welche aktuellen Forschungsergebnisse gibt es in Bezug auf Klima und Gesundheit?

Wir befinden uns mitten im Wandel – die Erderwärmung mit global gravierenden Auswirkungen ist längst Realität, die Ursache dafür ist die menschliche Aktivität. Dazu gibt es einen breiten wissenschaftlichen Konsens.

Wichtige und sehr gute Informationen sind im Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) von 2022 zu finden, insbesondere Kapitel 8 zu Gesundheit und Wohlbefinden. Darüber hinaus finden sich auch im World Health Organization Health and Climate Change Survey Report von 2021 hilfreiche wissenschaftlich-basierte Informationen.

Und in naher Zukunft mit dem Blick auf Deutschland der neue Sachstandsbericht „Klimawandel und Gesundheit (KlimGesundAkt)“ vom Robert Koch Institut. Der Bericht wird ab Herbst 2022 und bis 2023 in Form von thematischen Artikeln in einer Beitragsreihe „Klimawandel und Gesundheit“ des Journal of Health Monitoring (JoHM) veröffentlicht. Hierzu werden themenbezogene Artikel im Journal Health Monitoring erscheinen – inklusive die Adressierung der sozialen Determinanten der gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels sowie Handlungsempfehlungen und Konsequenzen für Public Health, was für mich wichtige Punkte darstellen.

Insgesamt möchte ich darauf hinweisen, dass die Adressierung klimawandelbedingter Gesundheitsgefährdungen keinesfalls „nur“ auf Aspekte wie Hitze, Dürre, UV-Strahlung, Überflutungen oder biologische Krankheitserreger begrenzt sein sollte. Sämtliche derzeit anstehenden Maßnahmen sowohl für Mitigation als auch Anpassung – und damit der riesigen Transformationsprozesse – müssten sowohl auf deren Auswirkungen auf die Gesundheit der verschiedenen Populationsgruppen als auch auf Gerechtigkeit, im Sinne von Gesundheit für alle, überprüft werden.

So bedarf es der Überprüfungen der Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise hinsichtlich ihrer gesundheitsfördernden oder -schädigenden Komponenten. Maßnahmen sollen also dahingehend abgeklopft werden, ob sie als gesundheitsfördernd beziehungsweise -erhaltend gelten können, insbesondere durch die Reduktion von Belastungen oder den Zugang zu Ressourcen.


Welche Personengruppen sind von den gesundheitlichen Folgen des Klimawandels besonders betroffen und wie können diese erreicht werden?

Würden ab sofort Maßnahmen nach bestem Wissen und Gewissen gezielt und gerecht umgesetzt werden, die erforderlich sind, um den Klimawandel zu minimieren, dürfte eigentlich keine Personengruppe mehr besonders betroffen sein.

Da dies leider erstmal ziemlich unwahrscheinlich ist und die verschiedenen Bedarfe und Bedürfnisse der verschiedenen Populationsgruppen nicht berücksichtigt werden, sind es eher die typischen Gruppen: (multi-)morbide Menschen und Menschen mit schweren Einschränkungen in allen Altersklassen und die sozial schwächsten Populationsgruppen (aller Altersklassen). Natürlich auch Kinder und Jugendliche insgesamt, da ihre körperliche Aktivität, Aufenthalt im Freien, Zukunftsperspektiven, Lernfähigkeit beeinträchtigt sein werden.

Besonders betroffen sind sicherlich körperlich tätige Arbeitnehmende – im Übrigen ein schon längst vorhandenes Problem. Die hier aufgezählten Gruppen lassen sich dann noch nach Bildung und Sozialschicht differenzieren, sodass jeweils diejenigen mit geringen und den geringsten Bildungschancen und Einkommen etc. nochmals betroffener sind als diejenigen mit größeren Ressourcen im Rücken.


Welche Lebenswelten sind dabei besonders zu beachten?

Ich kann mir gerade keine besonders betroffene Lebenswelt vorstellen. Ich denke, alle Lebenswelten müssen geschützt und intensiv auf die Folgen des Klimawandels vorbereitet werden.

Aus meiner Perspektive ist die nachhaltigkeitsorientierte Transformation von urbanen Räumen eine der dringlichsten Herausforderungen. Deshalb steht für mich die Stadt inklusive der öffentlichen städtischen Räume, die die verschiedenen Lebenswelten ja auch räumlich verbinden, im Fokus – wobei ich Stadt immer in Verbindung mit dem Land meine.

Eine Voraussetzung für Gesundheit in der Stadt ist dabei ein Paradigmenwechsel von Krankheitsbekämpfung zu Gesundheitsförderung: durch 1) Stärkung von Ressourcen und Potenzialen für ein gesundes Leben in Städten, 2) eine Verankerung von Gesundheitsförderung durch sektorübergreifende Stadtplanung bzw. -entwicklung sowie 3) eine Förderung der Gesundheitskompetenz der Stadtbevölkerung.


Welche Public Health-Akteurinnen und -Akteure bzw. bestehenden gesundheitsfördernden Strukturen in Bund, Länder und Kommune haben eine Schlüsselfunktion?

Bei der Umsetzung von Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise müssen alle Akteurinnen und Akteure aktiv werden! Auf jeder Ebene, in jedem Bereich kann und muss überprüft werden, welchen Einfluss der eigene Bereich auf den Klimawandel hat und wie der eigene Bereich Maßnahmen planen und durchführen oder auch unterstützen kann, damit die Klimakrise bewältigt wird.

Echte Schlüsselakteurinnen und -akteure können sich aber noch entwickeln und zwar dann, wenn Public Health es schafft, Allianzen mit den Bereichen Umwelt, Wirtschaft, Stadtplanung/Architektur, Verkehr etc. einzugehen. Die so gewonnenen Synergien können zu Schlüsselelementen bei der Bewältigung der vielen Folgen des Klimawandels werden.


Wie können die (Gesundheits-)Kompetenzen für klimasensibles Handeln für Akteurinnen und -Akteure in Bund, Ländern und Kommunen verbessert werden?

Wie gesagt – nur durch Kooperationen, Allianzen und Nutzung und Anwendung der geballten eigenen Expertise und in Kooperation mit der Expertise anderer Disziplinen und Verwaltungsbereichen.

Es gibt bereits viele Aktivitäten der genannten Akteurinnen und Akteure. Die meisten bisherigen Anpassungsmaßnahmen sind allerdings fragmentiert, klein und sektorspezifisch – und darauf ausgerichtet, auf aktuelle Auswirkungen oder kurzfristige Risiken zu reagieren. Sie konzentrieren sich eher auf die Planung als auf die Umsetzung.

Eine klimaresiliente und gesundheitsförderliche Entwicklung wird ermöglicht, wenn Regierungen, die Zivilgesellschaft und der Privatsektor integrative Entscheidungen treffen, die der Risikominderung, der Gleichheit und der Gerechtigkeit Vorrang einräumen, und wenn Entscheidungsprozesse, Finanzmittel und Maßnahmen über alle Regierungsebenen, Sektoren und Zeitrahmen hinweg integriert werden. Das Stichwort ist hier: Gesundheit und Klima in allen Politikbereichen.


Welche Chancen ergeben sich durch Klimaschutzanpassungen für Städte und Kommunen?

Vorteile für die Gesundheit und das Wohlbefinden ergeben sich aus einem weit verbreiteten, gerechten Zugang zu erschwinglichen erneuerbaren Energien, aktivem Verkehr, wie zu Fuß gehen und Rad fahren, grünen Gebäuden und naturbasierten Lösungen wie grüner und blauer (Anm.: Wasser) städtischer Infrastruktur sowie aus dem Übergang zu einer kohlenstoffarmen, auf das Wohlbefinden und die Gerechtigkeit ausgerichteten Wirtschaft, die mit den Zielen der nachhaltigen Entwicklung im Einklang steht.

Eine Zusammenführung der Klima- und der Gesundheitsperspektive eröffnet die Chance, Klimaschutzanpassungen positiver zu „erzählen“. Wenn Public Health die Maßnahmen aktiv mitgestaltet beziehungsweise in die Planungsprozesse einbezogen wird, dann können sogenannte Co-Benefits generiert werden. Es steht allerdings noch aus, zu prüfen, in welchen Bereichen Public Health in Klimaschutz und -anpassung, außer in den Bereichen Mobilität und Ernährung, noch Co-Benefits liefern kann.

Und es muss noch ausformuliert werden, inwieweit Public Health die Umsetzung von Klimaschutz und ‑anpassung erleichtern kann, beispielsweise indem durch die Gesundheitsperspektive positive Botschaften formuliert werden. Das Narrativ der Klimakrise, das oftmals negativ konnotiert ist mit Angst, Bedrohung, Katastrophe und Verzicht, könnte durch die verstärkte Aufmerksamkeit auf Gesundheit in eine positive Erzählung überführt werden: weg von der Verzichtskultur hin zu einer Gewinnkultur.

Die Kommunen könnten davon profitieren, indem es ihnen gelingt, durch interdisziplinär gestaltete Klimaschutzanpassungen gesundheitsfördernde und gesundheitserhaltende Lebensumwelten zu schaffen, die nachhaltig sind und Chancen für bestmögliche Gesundheit für alle bieten.


Die Fragen stellten Ulrike Meyer-Funke und Inke Ruhe, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Klimawandel:

Interview mit Dr. Ina Zimmermann, Leiterin des Bereichs Gesundheitsförderung/Gesundheitsplanung im Gesundheitsamt der Stadt Nürnberg und Mitglied im Sprecher*innenrat des Gesunde Städte-Netzwerks.

Interview mit Jörg Freese, Beigeordneter für Jugend, Schule, Kultur und Gesundheit, Deutscher Landkreistag.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Seit 2016 führt die BVPG das Präventionsforum im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durch. Das Präventionsforum ist eine jährliche Veranstaltung, zu der die NPK bundesweit agierende Organisationen und Verbände einlädt, die sich maßgeblich in der Gesundheitsförderung und Prävention engagieren.

Susanne Moebus | Biologin, Gesundheitswissenschaftlerin und Epidemiologin; Professorin für Urbane Epidemiologie, Direktorin des Instituts für Urban Public Health, Universitätsklinikum Essen. Ehemalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention, Mitglied u.a. im Use & Access Komitee der NAKO Gesundheitsstudie, der Steuerungsgruppe Zukunftsforum Public Health (ZfPH), Leiterin Forschungsfeld „StadtGesundheit“ Kompetenzfeld Metropolenforschung (KoMet) der Universitätsallianz Ruhr.


Positionspapier der BVPG zur Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes„Das Präventionsgesetz weiterentwickeln – mit den Eckpunkten der BVPG“

Zur Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes (PrävG) in der 20. Legislaturperiode hat die BVPG gemeinsam mit dem Vorstand und den Mitgliedsorganisationen des Dachverbandes ein Positionspapier erarbeitet. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, erläutert die „Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes“.

Viele Jahre forderte die Fachwelt ein Gesetz zur Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung, das folgende Erfordernisse regeln sollte: Gesundheitsförderung und Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu gestalten, Qualitätsentwicklung, Evaluation und Forschung auszubauen und auf Dauer zu stellen, die Auswirkungen sozialer Benachteiligung auf die Gesundheit vor allem durch verhältnispräventive Maßnahmen zu mildern und die für Prävention und Gesundheitsförderung bis dahin zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel deutlich zu erhöhen.

Den Vorgaben des Koalitionsvertrages vom 27. November 2013 entsprechend und unter Berücksichtigung der föderalen Kompetenzordnung durch das Grundgesetz trat am 17. Juli 2015 das „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ – kurz Präventionsgesetz (PrävG) – nach drei gescheiterten Anläufen in den vorausgegangenen drei Legislaturperioden dann endlich in Kraft.

Es intendiert im Wesentlichen, die für Prävention und Gesundheitsförderung zur Verfügung stehenden Finanzmittel zu erhöhen, Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten zu stärken sowie die betriebliche Gesundheitsförderung insbesondere für kleine und mittelständische Betriebe zu intensivieren. Um das zu erreichen, wurden Vorgaben eingeführt, die die Kooperation der Sozialversicherungsträger untereinander, aber auch mit anderen Akteuren stärken sollen. Insbesondere die Krankenkassen werden in die Pflicht genommen: Sie müssen Mehrleistungen für Prävention und Gesundheitsförderung erbringen (§ 20 Abs. 6 SGB V) und ihre Leistungen in gemeinsamen kassenübergreifenden Koordinierungsstellen (§ 20b Abs. 3 SGB V) auf Landesebene in Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmensorganisationen in den Betrieben anbieten.

Seither hat sich viel getan, Prävention hat an Bedeutung gewonnen, wird umfassender interpretiert und viele Akteure haben damit begonnen, gute Ansätze und Projekte niedrigschwellig zu etablieren. Die Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) teilt daher im Wesentlichen die Einschätzung der Bundesregierung zum Ersten Bericht der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) über die grundsätzlich gute Entwicklung der Prävention und Gesundheitsförderung (Erster Präventionsbericht – Bundestagsdrucksache 19/26140 vom 14.01.2021); insbesondere dahingehend, dass das Präventionsgesetz bisher zielgerichtet umgesetzt wird und einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der lebensweltlichen Prävention und Gesundheitsförderung leistet.

Für diese – nunmehr 20. – Legislaturperiode steht u. a. auch die Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes an. Dies betrifft die BVPG insofern direkt, als sie laut Gesetz (§ 20e Abs. 2 SGB V) mit der Durchführung des Präventionsforums im Auftrag der NPK betraut ist.

Das in der Regel einmal jährlich in Form einer eintägigen Veranstaltung zusammenkommende Präventionsforum soll die fachliche Rückkoppelung der NPK mit der Fachöffentlichkeit ermöglichen, womit im Umkehrschluss die Mitwirkung der Fachöffentlichkeit an der Entwicklung der Nationalen Präventionsstrategie in Form einer fachlich-sachlichen Beratung der NPK gewährleistet werden soll.

Die BVPG hat daher zu Beginn des Jahres 2022 in einem intensiven Abstimmungsprozess im Vorstand und mit den 132 Mitgliedsorganisationen „Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes (PrävG)“ formuliert und auf der Mitgliederversammlung am 10. Mai 2022 verabschiedet.

Zu den folgenden drei Punkten wird Fortentwicklungsbedarf gesehen, um die Umsetzung des PrävG noch stärker auf gesundheitsförderliche Lebenswelten (Verhältnisprävention via Setting-Ansatz) auszurichten sowie die Zusammenarbeit von Präventionsakteuren und die Bündelung zahlreicher Präventionsmaßnahmen zu intensivieren:

  1. Die Finanzierung von Prävention und Gesundheitsförderung dauerhaft und umfassend absichern und verlässliche Kooperationsvereinbarungen schaffen
  2. Die Qualität von Prävention und Gesundheitsförderung weiter verbessern
  3. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Organisationen der Zivilgesellschaft intensivieren und ausweiten

So wird u. a. empfohlen, Präventionsleistungen innovativ, digital und barrierefrei auszubauen sowie solche Leistungen zu stärken, die an strukturellen Rahmenbedingungen ansetzen. Zudem sollte die NPK um Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft erweitert und die Beratungsfunktion des Präventionsforums aufgewertet und verbindlicher gestaltet werden.

Durch das BVPG-Eckpunktepapier werden also insbesondere die zwar kompetenzrechtlich erklärbare, aber nicht befriedigende einseitige Verteilung der finanziellen Lasten auf die Schultern der gesetzlichen Krankenversicherung, die nur ansatzweise gelungene Gestaltung eines ressortübergreifenden Ansatzes und eine im Prinzip eher schwache Konstruktion von verbindlicher Zusammenarbeit der verschiedenen Beteiligten adressiert.

Festzuhalten bleibt damit grundsätzlich, dass für die Umsetzung eines nachhaltigen gesamtgesellschaftlichen Ansatzes ein anderes Präventionsgesetz notwendig wäre, das das Zusammenwirken aller relevanten Akteure – auch der Landes- und kommunalen Ebene – sowie deren finanzielle (Mit-)Verantwortung regelt. Voraussetzung für ein solches Gesetz wäre die Zustimmung im Bundesrat – oder aber die gesetzgeberische Kompetenz des Bundes müsste weitergehend sein als bisher.

Es gilt also, den weiteren Verlauf der Umsetzung des Präventionsgesetzes kritisch-konstruktiv zu begleiten. Dieser anspruchsvollen Aufgabe stellt sich die BVPG gerne.


Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitskompetenz: Interview mit Prof. Dr. Jürgen Pelikan, Leiter der internationalen Gesundheitskompetenz-Studie HLS19.

Informationen zu den Aufgaben und Zielen der BVPG finden Sie hier.

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Dr. Beate Grossmann | Seit 2016 Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG). Zuvor war sie dort als stellvertretende Geschäftsführerin, wissenschaftliche Referentin und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Frau Dr. Grossmann ist Mitglied in nationalen Gremien, Autorin zahlreicher Veröffentlichungen und angefragt für vielfältige Beratungs-, Gutachtens-, Vortrags- und Moderationstätigkeiten.

Digitalisierung in der Gesundheitsförderung und Prävention„Digitale Präventionsansätze partizipativ und bedarfsgerecht ausgestalten!“

Das 6. Präventionsforum widmete sich am 15. September 2021 der Digitalisierung in der lebensweltbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention. Keynote-Speaker Prof. Dr. Hajo Zeeb, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS, erläutert, wie die Digitalisierung zum Aufbau gesundheitsfördernder Strukturen beitragen kann.

Herr Professor Zeeb, Sie waren Keynote-Speaker auf dem 6. Präventionsforum, das in diesem Jahr den Schwerpunkt legte auf die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für die Gesundheitsförderung und Prävention in den Lebenswelten. Welchen Beitrag kann Digitalisierung leisten?

Digitalisierung ist fraglos nicht nur ein kurzfristiger Trend, sondern eine langfristige Entwicklung, die jetzt schon eingesetzt hat und viele Bereiche von Prävention und Gesundheitsförderung verändert und erweitert. Digitalisierung erlaubt größere Flexibilität und gezieltere Anpassung an Bedarfe und Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen, wenn man nur einmal an die schnell umzusetzende Anpassung an verschiedene Sprachen wie beispielsweise in der Gesundheitskommunikation denkt.

Zudem kann man sich die erhebliche Durchdringung des Alltags mit Internet und Smartphones zu Nutze machen: Hiermit sind mittlerweile fast alle Menschen erreichbar und sie nutzen diese digitalen Technologien. Nun geht es darum, diese große Verbreitung auch für sinnvolle Prävention und Gesundheitsförderung zu nutzen, und da liegen natürlich auch Risiken.


Inwiefern?

Ältere Menschen werden beispielsweise oft schlechter durch digitale Medien erreicht. Die Digitalisierung stellt zudem keinen Ersatz für direkte zwischenmenschliche Kontakte dar, sondern ist in vielen Fällen als Unterstützung oder Ergänzung anzusehen. Weitere Risiken liegen unter anderem auch darin, dass digitale Prävention und Gesundheitsförderung oft sehr individuen- und verhaltensorientiert ausgerichtet ist. Somit kann die so wichtige Verhältnisprävention leicht in den Hintergrund rutschen. 


Gibt es evaluierte Beispiele, die Sie uns nennen könnten?

Die Evaluation digitaler Technologien für Prävention und Gesundheitsförderung ist besonders herausfordernd, weil sich das Feld sehr schnell wandelt und methodisch viele Schwierigkeiten bestehen, angemessene Evaluationsdesigns einzusetzen. Es gibt mittlerweile dennoch sehr viele Evaluationsstudien und systematische Evidenzübersichten zu digitalen Präventions- und Gesundheitsförderungsangeboten. Dies sind zwar oft Prozessevaluationen, und nicht auf Wirksamkeit ausgerichtete Analysen, aber auch dazu gibt es einiges.


Was genau?

Im Bereich der Krebsfrüherkennung zeigt beispielsweise eine aktuelle Übersichtsarbeit, dass Informations- und Erinnerungsmaßnahmen via soziale Medien und Textnachrichten die Teilnahme deutlich erhöhen, auch hier werden oft verschiedene digitale und nicht-digitale Maßnahmen kombiniert (Ruco et al.).

Auch bei der Prävention psychischer Erkrankungen wird aktiv zu digitalen Maßnahmen geforscht, es gibt hier viel Evidenz zum Nutzen niedrigschwelliger digitaler Interventionen in der Prävention von Depressionen. Andererseits finden sich etwa im Bereich der Übergewichtsprävention, zum Beispiel bei digitalen Interventionen unter Einbeziehung der Eltern, noch keine Hinweise auf Wirksamkeit. Es bleibt hier sehr viel zu tun in einem Umfeld mit vielen Herausforderungen.


Wie können vulnerable Gruppen durch den Einsatz digitaler Technologien erreicht und  so ungleich verteilte Gesundheitschancen reduziert werden? Können Sie uns auch hier Beispiele nennen?

Die grundsätzliche Erreichbarkeit ist ja zunächst einmal ein echter Vorteil digitaler Technologien, weil zum Beispiel Smartphones mittlerweile zum Alltag für viele Menschen gehören. Interessant ist, dass bei der Nutzung digitaler gesundheitsbezogener Informationen Menschen mit Migrationshintergrund recht aktiv sind. Hier bestehen also recht gute Zugangsmöglichkeiten, um Gesundheitschancen zu verbessern.

Wichtig ist es, die Bedarfe und Interessen der jeweiligen Gruppe einzubeziehen: Ein Beispiel aus den USA nutzte das Interesse der Adressatinnengruppe an kurzen Smartphone-Videos, um afroamerikanische werdende Mütter über HIV und andere Risiken zu informieren und mit ihnen in Austausch zu treten.

Andererseits ist in der Corona-Pandemie erneut deutlich geworden, dass es weiterhin für manche sozial benachteiligte Gruppen sehr schwierig ist, digitale Anwendungen zu nutzen, einfach weil technische Rahmenbedingungen, wie beispielsweise das verfügbare Datenvolumen, begrenzt sind. Hieran ist zu denken, wenn neue Interventionen entwickelt werden, die konkret zur Verringerung von Chancenungleichheit führen sollen. Am besten gelingt dies durch partizipative, nutzerzentrierte Präventionsansätze.


In welchen Bereichen konnten und können Ansätze der Gesundheitsförderung und Prävention durch die Digitalisierung wirksam verbessert werden und gegebenenfalls einen Vorteil gegenüber analogen Methoden zeigen?

Bisher ist es noch so, dass digitale Präventionsansätze überwiegend das Verhalten und weniger die Strukturen und Rahmenbedingungen ansprechen. Mit einem breiten Verständnis von digitaler Gesundheitskompetenz, das nicht nur individuelle Fähigkeiten, sondern auch strukturelle und organisationale Aspekte einbezieht, lässt sich dieses wichtige Zukunftsthema gut angehen, denn bisher zeigen sich noch einige Gesundheitskompetenz-Unterschiede – je nach sozialem Status. Als Beispiel: Was trägt die Schule als Organisation oder Setting zur Verbesserung der digitalen Gesundheitskompetenz bei, welche Möglichkeiten gibt es hier?

Die Frage nach dem Vorteil gegenüber analogen Methoden stellt sich oft nicht, es geht meist um eine sinnvolle Kombination analoger und digitaler Ansätze, so auch bei den wichtigen Bereichen Ernährung und Bewegung. Digital können hier zum Beispiel Informationsvermittlung, Erinnerungen und Messung erfolgen. Das Gemeinsame, auf das Miteinander abzielende in der Umsetzung, etwa bei Bewegungsinterventionen, bleibt aber analog, oder aber ein Coaching durch „echte“ Personen im direkten Kontakt mit Nutzerinnen und Nutzern.

Neben der einfachen Erreichbarkeit und der Flexibilität digitaler Ansätze ist auch noch der Aspekt der Interaktion, des Austausches, zu benennen – Nutzerinnen und Nutzer können sich recht leicht einbringen und an der Durchführung und Verbesserung von Angeboten beteiligen oder auch nur durch Feedback und Kommunikation mit anderen den Spaß und die Motivation für gesundheitsförderliches Handeln hochhalten.


Nun gibt es ja sozioökonomisch und auch technisch bedingt Unterschiede im Zugang zu und in der Nutzung von digitalen Technologien. Wie kann dem „digital divide“, also der digitalen Spaltung, entgegengewirkt werden?

Wie schon angesprochen ist die digitale Gesundheitskompetenz ein wichtiger Schlüssel. Die digitale Spaltung kann ja auf mehreren Ebenen wirken, von der Frage der technischen Ausstattung bis hin zu unterschiedlicher Kompetenz, die Gesundheitschancen mit digitalen Mitteln auch wirklich zu verbessern. Es geht dabei auch um die Fähigkeit, die Qualität von digitalen Informationen und Angeboten bewerten zu können, das ist durchaus schwierig und bisher wenig geordnet.

Für Nutzerinnen und Nutzer in Deutschland ist insgesamt die digitale Spaltung bei der technischen Ausstattung von geringerer Bedeutung. Der Umgang und effektive Einsatz digitaler Technologien dürfte das größere Problem sein!


Was kann helfen, dieses Problem zu lösen?

Wichtig erscheint eine echte partizipative Entwicklung, die die späteren Nutzendengruppen aktiv einbezieht und die Barrieren einschließlich der sprachlichen möglichst niedrig hält. Letzten Endes sind dies bekannte Schwierigkeiten im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung, die sich bezüglich digitaler Technologien erneut und zum Teil verschärft stellen.


Vor kurzem wurde vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie eine bundesweite Befragung zu Digitalisierung und Gesundheit durchgeführt. Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?

Bei der digitalen Gesundheitskompetenz gab es das bekannte Bild mit höheren Werten bei gut Gebildeten und Jüngeren. Auffällig war, dass fast 90 Prozent der Teilnehmenden davon ausgehen, dass die Digitalisierung wichtig oder sehr wichtig für die Zukunft der Gesundheitsversorgung sein wird, bei der Gesundheitsförderung immerhin noch knapp 70 Prozent.

Und knapp 60 Prozent planen, in Zukunft auch Apps zum Thema Prävention und Gesundheitsförderung herunterzuladen. Das waren für mich eher hohe Anteile bei diesen Fragen, gerade weil bisher nur eine klare Minderheit der Personen, die ein Smartphone haben, auch tatsächlich Gesundheits-Apps nutzen. Da gibt es also offensichtlich Potenzial, auch auf Seiten der Nutzerinnen und Nutzer.


Die Fragen stellten Inke Ruhe und Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Seit 2016 führt die BVPG das Präventionsforum im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durch. Das Präventionsforum ist eine jährliche Veranstaltung, zu der die Nationale Präventionskonferenz bundesweit agierende Organisationen und Verbände einlädt, die sich maßgeblich in der Gesundheitsförderung und Prävention engagieren.

Lesen Sie dazu auch:

Interview zum Thema „Geschlechtersensible Prävention und Gesundheitsförderungmit Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Universität Bielefeld und Radboud Universität in Nijmegen (NL).

Mehr zu Digitalisierung in der Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Seit 2016 führt die BVPG das Präventionsforum im Auftrag der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) durch. Das Präventionsforum ist eine jährliche Veranstaltung, zu der die NPK bundesweit agierende Organisationen und Verbände einlädt, die sich maßgeblich in der Gesundheitsförderung und Prävention engagieren.

Prof. Dr. med. Hajo Zeeb | Seit 2010 Professor für Epidemiologie an der Universität Bremen und Leiter der Abteilung Prävention und Evaluation am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Umwelt- und Strahlenepidemiologie, Sozialepidemiologie mit Fokus Migration und Gesundheit, Evidenzbasierung von Public Health. Prof. Dr. med. Hajo Zeeb ist Sprecher des Leibniz Wissenschaftscampus Digital Public Health Bremen und in mehreren Fachgesellschaften (DGSMP, DGEpi) sowie im Zukunftsforum Public Health aktiv.


Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Health in All Policies„Jetzt ist es wichtig zu sagen: Wir schaffen in Deutschland das modernste Öffentliche Gesundheitswesen der Welt!“

Die weltweit renommierte Professorin im Feld der Gesundheitsförderung, Ilona Kickbusch, über Health in All Policies, die internationale Bedeutung und Umsetzung des Begriffes „Wellbeing“ und darüber, für wie bedeutsam sie es erachtet, jetzt in Deutschland das modernste Öffentliche Gesundheitswesen der Welt zu schaffen.

Frau Kickbusch, wir wissen seit Verabschiedung der Ottawa-Charta, also seit mehr als 30 Jahren: Gesundheit wird in den Lebenswelten der Menschen erzeugt und erhalten und ist vor allem von Faktoren abhängig, die nicht primär durch das Gesundheitssystem selbst beeinflussbar sind weshalb „Health in All Policies“ ein wichtiger Grundsatz der Gesundheitsförderung ist. Dennoch haben sich gesundheitsfördernde Gesamtpolitiken bislang noch nicht so richtig durchsetzen können – zumindest in Deutschland nicht. Woran liegt das?

Um dies zu beantworten, möchte ich zeitlich noch etwas früher anfangen. Die Ottawa-Charta hat ja eigentlich „nur“ Wissen zusammengetragen, das schon sehr lange vorhanden war. In Deutschland hat beispielsweise Rudolf Virchow anlässlich der Cholera-Epidemie in Schlesien ganz klar gesagt, dass es die Armut und die sozialen Ungleichheiten sind, die zu den extremen Cholera-Ausbrüchen geführt haben.

Es ist also ein Wissen, das wir in Public Health schon sehr lange haben, das aber in der Politik nur selten ernst genommen wurde und selten bewusst eingesetzt worden ist. Es war eine unserer Aufgaben, mit der Ottawa Charta gerade dieses Public Health-Wissen wieder in den Vordergrund zu bringen und zu zeigen, was dieses Wissen für die modernen Gesellschaften, also damals Mitte der 1980er Jahre, bedeutet. So lautete dann auch der Untertitel „Towards a new public health“.

Zudem hat Health in All Policies ja zwei Dimensionen: Wenn ein Staat „gut regiert ist“, wenn es soziale Absicherung und weniger soziale Ungleichheiten gibt, dann ist von vornherein eine bessere Gesundheit „garantiert“. Andererseits geht es aber auch um das bewusste Bemühen um Gesundheit in möglichst allen Politikbereichen. Diese zwei Aspekte muss man immer miteinander verbinden. Also anerkennen, wenn in anderen Politikbereichen etwas gemacht wird, das der Gesundheit dient und zum anderen proaktiv Co-Produktionen zu schaffen.

Die Relevanz dieser Co-Produktionen haben wir in dem südaustralischen Projekt zu Health in All Policies, an dem ich mitgearbeitet habe, versucht zu verdeutlichen. Es gilt also, gemeinsam zu arbeiten, also zum Beispiel ein Umweltministerium und ein Gesundheitsministerium oder ein Verkehrsamt mit einem Gesundheitsamt. Das heißt mit anderen Worten die Frage zu beantworten: Wo finden wir Politikansätze, durch die in der Zusammenarbeit jeder Bereich gewinnt?

In unserer Arbeit zu Health in All Policies haben wir festgestellt: Je näher die Politikbereiche an den Menschen sind, wie zum Beispiel im Kommunalbereich, umso besser und schneller ist Health in All Policies umsetzbar und umso häufiger ist auch ein größerer politischer Wille dafür vorhanden. Man ist einfach näher an den Menschen und die Menschen sind näher an der Politik.


Wie gelingt die Umsetzung auf der nationalen Ebene?

Auf nationaler Ebene ergeben sich zwei Anknüpfungspunkte: Zum einen gibt es die sogenannten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals (SDG), die ganz klar in allen Bereichen, auch in Bezug auf Gesundheit, ein Modell entwickelt haben, mit dem Ziel, dass alle Politikbereiche in Co-Produktion zusammenarbeiten müssen, damit wir eine nachhaltige Gesellschaft schaffen können. Dadurch hat sich für Health in All Policies auf nationaler Ebene mehr getan, wie wir in verschiedenen SDG-Analysen festgestellt haben.

Zum anderen hat sich teilweise unter einer anderen Terminologie etwas getan – und das ist hier sehr wichtig zu erwähnen: Wir sehen, dass vor allem im englisch-sprachigem Raum und dort, wo es ins Englische übersetzt wird, der Begriff Wellbeing sehr viel häufiger benutzt wird. Wir sehen auch in der Umsetzung von Health in All Policies, wie eingangs genannt in Australien oder auch aus anderen Bereichen, dass der Wellbeing-Begriff sehr viel anschlussfähiger ist.

„Health“ klingt ja häufig so: Jetzt kommen die Gesundheitsleute und wollen so eine Art Gesundheitsimperialismus einführen, wobei Gesundheit als Wert über alles andere gestellt wird. Das Konzept der Gesundheitsförderung hat zwar immer wieder betont, dass Gesundheit als gesellschaftlicher Wert wichtig ist, nicht aber der höchste Wert, hinter dem alles andere zurücksteht. Wellbeing scheint ein Begriff zu sein, der sehr viel besser auch in die Co-Produktion passt. So ist SDG 3 zum Beispiel ja auch Health and Wellbeing.


Wie haben andere Länder ähnliche Herausforderungen bewältigt? Und wo sind die Anknüpfungspunkte in Deutschland?

Ein ganz wichtiger Bereich der Entwicklung sind hier die Diskussionen zur „Wellbeing Economy“, zu der es viele interessante Politikansätze gibt. Schottland ist ein Beispiel, wo es auch dazu eine Beratungsgruppe der Regierung gibt. Es ist ein Denken – wir hätten es vor zehn Jahren Health in All Policies genannt – man nennt es heute Wellbeing Economy – das teilweise aufbaut auf einer neuen Art, ökonomisch zu denken. Kate Raworth hat dazu die sogenannte „doughnut economy“ entwickelt, die darauf abzielt, unsere Nachhaltigkeits- und Wohlbefindensgedanken unter anderem mit Ökonomie und Gesundheit zusammen zu bringen.

Und Finnland, eines der führenden Länder in Health in All Policies, hat das Verständnis von Health in All Policies auf nationaler Ebene ausgeweitet und dazu beigetragen, auch in der Europäischen Union eine Diskussion über die Wellbeing Economy einzuführen. In dieser Wellbeing Economy spielen Gesundheit und Wohlbefinden als wichtige Indikatoren des Erfolgs staatlicher Politik eine bedeutende Rolle.

Bis zur Coronakrise haben wir beobachtet, dass einige Staaten diesen Gedanken aufgegriffen haben. Beispielsweise hat Neuseeland ein sogenanntes Wellbeing-Budget eingeführt. Das dortige Bruttosozialprodukt ist nicht nur über ökonomisches Wachstum definiert, sondern muss auch alle anderen Nachhaltigkeitsziele beinhalten, so auch Gesundheit.

Dies ist ein wichtiges Signal auch für Deutschland. Es gibt ja bereits einen Deutschen Nachhaltigkeitsrat und den Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung. Wo immer in der deutschen Regierung über Nachhaltigkeit diskutiert wird, muss man sehr dahinter sein und sehr viel mehr Druck ausüben, dass Co-Produktionen entstehen und die Gesundheit im Sinne von Health in All Policies ganz signifikant verankert wird. Denn auch der engere Begriff der Nachhaltigkeit, also der der Umwelt, ist nicht mehr von Gesundheit zu trennen.

Es gibt außerdem derzeit sehr viel Bewegung in Politik und Gesellschaft. So sind zum  Beispiel die Vier-Tage-Woche oder der Zugang zu Kitas bereits Diskussionsthemen der Gesundheitsförderung, weil sie einiges bewirken – sowohl für die Gesundheit von Kindern wie von Müttern. Wir müssen als Gesundheitsförderer kreativer sein, wo und wie wir uns wegen dieser Co-Produktion einbringen. Und wir müssen auch ein bisschen mehr die Gesundheit vor die Parteipolitik stellen – das ist mir sehr wichtig.


Worauf kommt es also an, wenn wir die Politik von „Health in All Policies“ nachhaltig überzeugen wollen?

Wichtig ist, Gesundheitsförderung an gesellschaftliche Innovationen und Bewegungen für ein besseres Leben anzubinden. Man müsste noch mehr „eintauchen“ in die digitale Transformation wie beispielsweise im Hinblick auf Kindergesundheit und die Regulierung von Werbung im digitalen Bereich. Man müsste sich vielleicht auch so „heißen“ Themen wie „Pornografie im digitalen Bereich“ aussetzen und klar machen, dass wir Gesundheitsförderer in der Mitte der Gesellschaft sind und wissen, wo es brennt und wo Co-Produktionen viel bewirken könnten.

Aber genauso wichtig ist auch eine valide Datenlage. Wenn ich zum Beispiel die Verkehrspolitik von Kopenhagen nehme, so muss ich als Gesundheitsförderer in der Lage sein, benennen zu können: Die Tatsache, dass eine bestimmte Anzahl x von Menschen mit dem Fahrrad zu Arbeit fährt, hat den folgenden Gesundheitsimpact y durch Rückgang an Herzinfarkten, Atemwegserkrankungen, Autounfällen und bringt ökonomisch gesehen für unsere Stadt den Betrag z.

Das ist natürlich eine Motivation für die Gesundheitsfachleute, noch enger mit den Verkehrs- und anderen Expertinnen und Experten zusammenzuarbeiten.

Ich glaube, diese ständige Interaktion, dieser Austausch von Daten, ist für die Co-Produktion sehr bedeutsam. Deshalb ist auch die internationale Zusammenarbeit so wichtig. Denn dort kann man immer wieder Beispiele finden und wir können dann sagen: Lasst uns das bei uns auch anwenden! Ich halte diese Art von Evidenz, die politisch eingebracht werden kann, die einen ökonomischen Faktor und einen Gesundheitsfaktor hat, für sehr wichtig.


Die Corona-Pandemie hat ja „Gesundheit“ tatsächlich in allen Politikbereichen zu einem bedeutsamen Thema gemacht. Wird es also jetzt die Chance für „Health in All Policies“ geben?

Es wurde immer gesagt: Das Virus macht keine Unterschiede. Aber es trifft auf eine Gesellschaft mit großen Unterschieden und es hat diese verstärkt. Es hat aufgezeigt, dass verschiedenen Determinanten der Gesundheit in den Vordergrund treten, wie sozialer Wohnungsbau oder soziale Ungleichheit. Wir haben in Amerika gesehen, dass soziale Determinanten, die bislang weniger beachtet worden sind, wie Gender und Rassismus, in den Vordergrund getreten sind.

Was wir jetzt bei der Arbeit bei der Weltgesundheitsorganisation sehr stark betonen, ist, dass es keine Gesundheitssicherheit ohne soziale Sicherheit geben kann. Man sieht ja derzeit weltweit, dass ein Wohlfahrtsstaat und eine Wellbeing-Economy tatsächlich auch einen Unterschied machen. Es wurde plötzlich deutlich: Man kann keine Gesundheitspolitik ohne Wirtschaftspolitik machen. Und ich glaube, dass dies eine nachhaltige Erkenntnis ist.


Das erscheint plausibel und nachvollziehbar. Aber selbst wenn die Gesundheitsförderungs-Community noch so überzeugt ist vom „Health in all Policies“-Ansatz – wenn die Akteurinnen und Akteure der anderen Politikbereiche nicht mitziehen, bringt das wenig. Was sind aus Ihrer Sicht die überzeugendsten Argumente, mit denen man zu einem gemeinsamen Vorgehen motivieren kann?

Es geht nur mit Co-Produktionen, es geht nur, wenn man das gemeinsam angeht. Man muss sich also zusammenraufen und das kann auch tatsächlich lange dauern, wie wir es in dem eingangs genannten südaustralischen Projekt gesehen haben.

Man muss die Evidenzen zusammensuchen, es bedeutet natürlich auch, produktiv streiten zu können, man muss Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herbeiziehen – es ist ein herausforderndes Unterfangen! Das heißt, man muss lernen, Gesundheitsdiplomatie anzuwenden, zu verhandeln, zuzuhören und auch mal dem anderen die Erfolge zuschreiben. Es ist etwas, das man bis zu einem gewissen Grad lernen kann. Bei der Weltgesundheitsorganisation haben wir Kurse und Trainingshandbücher dazu entwickelt.


Und was können wir konkret in Deutschland tun?

Die Bundesregierung hat vor Kurzem einen Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst verabschiedet, der die Gesundheitsämter in den nächsten Jahren auf vielen Ebenen stärken soll. Jetzt also muss die Gesundheitsförderung bereitstehen und benennen können, was Öffentliche Gesundheit heißt.


Das heißt?

Eben nicht nur  Gesundheitssicherheit und Epidemiologie. Und wenn Epidemiologie, dann auf jeden Fall Sozialepidemiologie, so wie sie uns Michael Marmot gelehrt hat. Politische Ökonomie gehört dazu, denn wir sehen ja gerade bei COVID-19, wie politisch öffentliche Gesundheit ist, wie sie angegriffen wird, auf welche politischen Auseinandersetzungen sie vorbereitet sein muss. Und auch hier helfen besonders Zahlen und Daten anstatt Vermutungen. Aber gleichzeitig muss man vermitteln können, was Zahlen überhaupt bedeuten – den Politikern wie auch der Bevölkerung.


Und was empfehlen Sie für die Umsetzung?

Ich bin überzeugt, es braucht einen Ausbildungsschub und die Beantwortung der Fragen wie: Wer soll in den Gesundheitsämtern arbeiten? Welche Art von Kompetenz benötigt das Personal? Wie beschreibt man die Aufgabe eines Gesundheitsamtes? Als eine Aufgabe, die Health in All Policies und Wellbeing auf lokaler Ebene beinhaltet? Soll das Gesundheitsamt auch eine Art Gesundheitstreff werden, wie wir es beispielsweise bei der Gesunde Städte-Bewegung ausprobiert haben? Es gibt sehr viel da draußen, es gibt viele kleine Initiativen, die gerne einen „Haken“ hätten, an dem sie sich andocken könnten.

Gerade jetzt, wo man sozusagen durch COVID-19 die Bedeutung des Public Health in den Gesundheitsämtern neu entdeckt hat, jetzt ist es wichtig, die Gesundheitsförderungs-Stimme zu erheben und zu sagen: Erinnert euch, es gibt eine Ottawa-Charta, es gibt neue Erkenntnisse, es gibt neue Evidenzen, es gibt neue Konzepte. Und jetzt schaffen wir in Deutschland das modernste öffentliche Gesundheitswesen der Welt, das aufbaut auf einem Health in All Policies-, auf einem Wellbeing-Ansatz und einem Nachhaltigkeitsdenken.“


Auch das „Präventionsforum“ beschäftigte sich in diesem Jahr mit Prävention und Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche und politikfeldübergreifende Herausforderungen – beispielhaft diskutiert an den Schwerpunktthemen „Pflege“ und „Psychische Gesundheit“. Wie erfolgversprechend ist es aus Ihrer Sicht, mit einzelnen Schwerpunktthemen in die Umsetzung von gesundheitsfördernden Gesamtpolitiken einzusteigen?

Ich halte das Schwerpunktthema, das gesetzt wurde, für außerordentlich bedeutsam, auch aus der Frauenperspektive. Ein Großteil der pflegenden Kräfte ist weiblich. Sie brauchen auch zunehmend Gesundheitsförderungskompetenzen, sie sind sehr viel näher dran an vielen der sozialen Determinanten als manchmal die Medizin und sie leiden selber außerordentlich unter dem Arbeitsdruck. Viele dieser Belastungen sowohl bei dem Patienten wie bei dem Betreuenden sind im Bereich des Mental Health, der psychischen und der sozialen Gesundheit. Ich halte das für eine sehr wichtige Diskussion.

Ich glaube aber auch, dass das Präventionsforum genutzt werden müsste, um beispielsweise eine Arbeitsgruppe einzurichten, die sich dem Thema „New Public Health“ in Deutschland annimmt. Wenn jetzt diese historische Situation gegeben ist, dass etwas, für das wir so lange gekämpft haben – bessere Ausbildung, bessere Gesundheitsämter, interdisziplinäres Robert Koch-Institut, und so weiter – wahr wird, muss man eingreifen. Trotz Präventionsgesetz ist ja vieles nicht geschafft worden. Jetzt aber gilt es, auf Bundes- und auf Länderebene Allianzen und Koalitionen für eine neuen Öffentlichen Gesundheitsdienst zu bilden.


Die Fragen stellte Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health In All Policies: Interview mit Dr. Katharina Böhm, Geschäftsführerin der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE) und Mitherausgeberin des ersten deutschsprachigen Standardwerks zu Health in All Policies („Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Das Konzept Health in All Policies und seine Umsetzung in Deutschland“).

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt COVID-19: Interview mit Dr. Rüdiger Krech, Direktor für Gesundheitsförderung bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitliche Chancengleichheit: Interview mit Stefan Bräunling, Leiter der Geschäftsstelle des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitliche Chancengleichheit: Interview mit Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, Vorständin Sozial- und Fachpolitik Deutscher Caritasverband, Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik Diakonie Deutschland und Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband.

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Prof. Dr. Dr. (mult.) llona Kickbusch | Gründerin und Vorsitzende des Global Health Centre am Graduate Institute in Genf. Sie ist Mitglied im Global Preparedness Monitoring Board, in der WHO High Level Independent Commission zu NCDs, Co-Chair von UHC 2030 und Council Chair des World Health Summits. Ilona Kickbusch war in deutsche Aktivitäten zu G7 und G20 eingebunden sowie in die Entwicklung der deutschen Strategie für globale Gesundheit. Sie initiierte @wgh300, eine Liste von führenden Frauen in der globalen Gesundheit. Ilona Kickbusch ist Co-Vorsitzende einer Lancet FT Kommission zu “Governing health futures 2030: growing up in a digital world.” Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.