Positionspapier der BVPG zur Weiterentwicklung von Prävention und Gesundheitsförderung„Empfehlungen der BVPG zur Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung“

Gemeinsam mit ihren Mitgliedsorganisationen hat die BVPG Empfehlungen für die zukünftige Ausrichtung von Prävention und Gesundheitsförderung erarbeitet und auf ihrer Mitgliederversammlung am 22. Mai 2023 verabschiedet. Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, erläutert das Positionspapier.

Eine größere Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung kann nach Einschätzung der BVPG entscheidend zu einer verbesserten Lebensqualität der Bevölkerung in Deutschland beitragen, allerdings nur, wenn das Handlungsfeld fachlich, politisch und strukturell weiterentwickelt wird.

Die grundsätzliche Forderung nach Stärkung und Veranke­rung von Prävention und Gesundheitsförderung als eines ressortübergreifenden und vor allem die Verhältnisprävention berücksichtigenden Handlungsprinzips ist zentrales und zugleich verbindendes Element der folgenden fünf Empfehlungen:

  • Das Präventionsgesetz in eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik einbinden
  • Prävention und Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe weiterentwickeln und ausbauen
  • Kommunale Gesundheitsförderung weiterentwickeln
  • Digitalen Fortschritt und wertebasierte Orientierung in Einklang bringen
  • Ziele, Pläne, Strategien: Bestehendes sichten und Mehrfachentwicklungen vermeiden


  • 1. Das Präventionsgesetz in eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik einbinden

    Die bisherige Umsetzungspraxis des am 25. Juli 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetzes zeigt, dass durch die föderale Struktur Deutschlands die gesetzgeberischen (also verpflichtenden und ggf. sankti­onsbewehrten) Möglichkeiten des Bundes auf die (vergleichsweise engen) Aufgabenbereiche der Sozialversi­cherungsträger und insbesondere die Erbringung vorgegebener finanzieller Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung beschränkt sind.

    Umso wichtiger ist da­her der Health-in-and-for-All-Policies-Ansatz als der zentrale Ansatz für eine zukunftsfähige Politik. Darum wäre es sinnvoll, zukünftig alle neuen Geset­zesvorha­ben auf Bundes- und Landesebene auf ihre gesundheitlichen Auswirkungen hin zu analysieren. Da­rüber hinaus gilt es, neue Wege der Zusammenarbeit der Ministerien zu schaffen, um die sektor- und ressort­übergreifende Zusammenarbeit dauerhaft zu ermöglichen.

    2. Prävention und Gesundheitsförderung als Querschnittsaufgabe weiterentwickeln und ausbauen

    Prävention und Gesundheitsförderung sind keine weitere „Säule“ des Gesundheitswesens, sondern eine basale Voraussetzung für ein resilientes und damit zukunftsfähiges Gemeinwesen. Deshalb, so die dringende Empfehlung, darf keinesfalls am Budget für Prävention und Gesundheitsförderung gespart werden! Auch wenn sich – aus ganz unterschiedlichen Gründen – in zunehmendem Maße Engpässe bei der Finanzierung der unterschiedlichen Sozialversicherungssysteme auftun und die öffentlichen Kassen leer sind: Effekt- und zielorientierte Ausgaben für die Prävention und Ge­sundheitsförderung sind Investitionen, die helfen, menschliches Leid durch Krankheiten, Invalidität oder Pfle­gebedürftigkeit zu vermindern und langfristig die entsprechenden Ausgaben in diesen Bereichen zu senken. Darüber hinaus sind auch für weitere gesellschaftspolitische Bereiche – bei mittel- und längerfristiger Be­trachtung – sekundäre Einsparungen zu erwarten.

    Ferner kann zweifellos menschliche Gesundheit nicht mehr entkoppelt von planetarer Gesundheit gesehen werden. Dies wird gegenwärtig durch die Klimakrise deutlich. Es gilt, die vielfältigen Einflüsse des Klimawandels auf die menschliche Gesundheit in den Blick zu nehmen und gemeinsam zu handeln. Da die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und die individuellen Ressourcen zu deren Milderung ungleich in der Bevölkerung verteilt sind, müssen neben allgemeinen Maßnahmen insbesondere Maßnahmen zur Förderung und Verbesserung ge­sundheitlicher Chancengleichheit entwickelt und zur sozialen Inklusion in den Lebenswelten des Alltags um­gesetzt werden.

    Ein weiteres Ziel muss dabei sein, die individuelle wie auch die organisationale Sicherheits- und Gesundheits­kompetenz zu stärken, damit insbesondere strukturell benachteiligte Personengruppen in die Lage versetzt werden, selbst und/oder unterstützt durch das Bildungs-, Sozial- bzw. Gesundheitssystem u. a. relevante Ge­sundheitsinformationen zu finden, zu verarbeiten und zu verstehen sowie zu angemessenen gesundheitsbe­zogenen Entscheidungen zu kommen.

    3. Kommunale Gesundheitsförderung weiterentwickeln

    Um diese Empfehlung zu realisieren, bedarf es tragfähiger Rahmenbedingungen: Prävention und Gesundheitsförderung sollten zu pflichtigen Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung und als Pflichtaufgaben in den Gesundheitsdienstgesetzen der Länder für den Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) verankert werden – und auch die Finanzierung von zielgruppenbezogenen Gesundheitsför­derungsmaßnahmen vor Ort muss dauerhaft gesichert sein. Strukturell betrachtet, liegt die Verantwortung dafür bei den Kommunen. Im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung müssen Kommunen dabei aber unterstützt werden.

    Mit dem Pakt für den ÖGD hat der Bund dafür bereits den Grundstein gelegt. Darüber hinaus sollte geprüft wer­den, ob nicht auch auf das Handlungsfeld „Prävention und Gesundheitsförderung“ übertragen werden könnte, was in anderen Bereichen (Straßenbau, Hochschulbau, digitale Aufrüstung von Schulen etc.) in Sachen „Trans­ferleistungen des Bundes an die Länder und Kommunen“ bereits erprobt worden ist. So könnte der Bund Mittel für den KiTa-Ausbau, das Teilhabepaket oder gleichwertige Lebensverhältnisse zur Verfügung stellen.

    Auch die gesetzlichen Krankenkassen sollen in der kommunalen Gesundheitsförderung unterstützend wirken, indem sie z. B. den Aufbau von Strukturen im Sinne einer Anschubfinanzierung finanziell fördern. Ein positives Ergebnis der bisherigen Umsetzungen der Regelungen des Präventionsgesetzes sind die Aktivitäten des GKV-Bündnisses für Gesundheit, die konsequent auf einen Abbau strukturell bedingter sozialer und gesundheitli­cher Ungleichheit hinwirken.

    4. Digitalen Fortschritt und wertebasierte Orientierung in Einklang bringen

    Autonomie, Empowerment, Partizipation und soziale Gerech­tigkeit – an diesen Werten orientiert sich Gesundheitsförderung. Gerade mit Blick darauf gilt es also zu prüfen, wie digitaler Fortschritt so gestaltet werden kann, dass dieser dem Menschen dient bzw. ausgeschlossen werden kann, dass er ihm schadet.

    Digitale Angebote sind kein „Allheilmittel“. Es muss genau differenziert werden, in welchen Bereichen digitale Angebote tatsächlich Chancen bieten, z. B. weil sie einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen, aber auch, wo diese Angebote nicht greifen. Konkret ist daher neben der Qualität jeweils zu prüfen, für wen, in welcher Situation, mit welchem Ziel das Angebot ein­gesetzt wird. Daneben sollte auch immer die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, digitale, hybride und nicht-digitale Maßnahmen kombiniert – und nicht im Sinne eines Entweder-Oders – weiterzuentwickeln und anzubieten. Auch sollte die Barrierefreiheit stets berücksichtigt werden.

    5. Ziele, Pläne, Strategien: Bestehendes sichten und Mehrfachentwicklungen vermeiden

    Für die Gemeinschaftsaufgabe „Prävention und Gesundheitsförderung“ sind in Deutschland viele verschiedene Akteure zuständig. Das führt zu einer bunten und kaum noch überschaubaren Vielfalt von Aktivitäten im Handlungsfeld. Gefordert ist deshalb eine bessere Integration und Koordination der Pflichten und Aufgaben, aber auch der Finanzierungs- und Evaluierungsbedarfe auf Seiten der zahlreichen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure und Aktivitä­ten, damit Konfliktpotentiale erkannt und Doppelentwicklungen ebenso wie Mehrfachfinanzierungen vermieden werden können.

    Das Positionspapier kann hier heruntergeladen werden (PDF).

    Lesen Sie dazu auch:

    Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Eckpunkte der zur Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG) zur Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes (PrävG)“.  

    Interview mit Dr. Rüdiger Krech, Director Health Promotion, Division of Universal Health Coverage and Healthier Populations, WHO, zum 75. Jubiläum der WHO: „Health For All – 75 years of improving public health“.

    Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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    Dr. Beate Grossmann | Seit 2016 Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG). Zuvor war sie dort als stellvertretende Geschäftsführerin, wissenschaftliche Referentin und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Frau Dr. Grossmann ist Mitglied in nationalen Gremien, Autorin zahlreicher Veröffentlichungen und angefragt für vielfältige Beratungs-, Gutachtens-, Vortrags- und Moderationstätigkeiten.

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Diabetesprävention„Diabetesprävention: sichtbar machen und weiter nach vorne bringen!“

    Zur Prävention von Diabetes mellitus hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) die „Nationale Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus” entwickelt. Prof. Dr. Martin Dietrich, kommissarischer Direktor der BZgA, erläutert die Strategie.

    Herr Professor Dietrich, warum ist es wichtig, die Bevölkerung über Diabetes zu infomieren?

    In Deutschland leben etwa 7 Millionen Menschen mit Diabetes und 1,3 Millionen von ihnen wissen es gar nicht. Typ-2-Diabetes ist im Erwachsenenalter mit etwa 93 Prozent die häufigste Diabetesform und steigt mit zunehmendem Alter an. An Typ-1-Diabetes erkrankt man hingegen vorwiegend im Kindes- und Jugendalter. Die Krankheit kann Folgeerkrankungen an Organen verursachen, und Menschen mit Diabetes sowie ihre Angehörigen leiden oftmals unter psychosozialen Belastungen. Das Risiko, einen Diabetes zu entwickeln wird häufig unterschätzt. So gehen knapp 80 Prozent der Menschen mit einem erhöhten Diabetesrisiko davon aus, ihr Risiko sei eher gering, an Diabetes zu erkranken. Auch die Hausärzteschaft vermutet, dass der Wissensstand und das Risikobewusstsein zu Diabetes bei ihren Patientinnen und Patienten gering bis mittelmäßig sind.


    Was kann eine effektive Diabetesprävention leisten?

    Ein gesunder Lebensstil kann das Risiko deutlich reduzieren, an Typ-2-Diabetes zu erkranken oder Folgeerkrankungen bei bestehendem Diabetes zu entwickeln. Übergewicht und Adipositas sind dabei wichtige beeinflussbare Faktoren und die gegenwärtigen Umgebungs- und Lebensbedingungen – die häufig Bewegungsmangel – und unausgewogene Ernährung fördern – begünstigen einen Anstieg von Typ-2-Diabetes. Andererseits können Typ-2-Diabetes sowie auch weitere nicht übertragbare Erkrankungen durch geeignete und sich ergänzende verhaltens- und verhältnisbezogene Maßnahmen teils verhindert werden. Diese Maßnahmen sollten die Bevölkerung auch für die Herausforderungen der Diabetesprävention sensibilisieren, ihr aber ebenfalls die Möglichkeiten aufzeigen, ihnen zu begegnen. Dazu zählt auch, gesichertes Wissen zu Gesundheitsfragen zu vermitteln, die Gesundheitskompetenz zu erhöhen und Selbstwirksamkeit zu stärken.


    Welche Aufgabe hat die BZgA bezüglich der Diabetesaufklärung?

    Die BZgA hat die originäre Aufgabe, die Bevölkerung durch qualitätsgesicherte Aufklärung zu Gesundheitsthemen zu informieren und sie durch adressatengerechte Ansprache zu einer gesunden Lebensweise zu motivieren. Dabei sind Teilhabe von Zielgruppen und Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen, sozialversicherungsrechtlichen sowie staatlichen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern wesentliche Bausteine für den Erfolg präventiver Maßnahmen.

    Daher ist es folgerichtig, dass die BZgA durch das BMG betraut wurde, an der Entwicklung der „Nationalen Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus“ mitzuwirken und diese zu koordinieren. Gemeinsam mit dem eigens eingerichteten Fachbeirat mit Vertretungen aus für die Diabetesaufklärung relevanten Verbänden sowie Organisationen und Institutionen wurde die Strategie mit ihren Handlungsfeldern, Zielen und Zielgruppen in einem partizipativen Prozess erarbeitet und im November 2022 veröffentlicht (www.diabetesnetz.info).


    Was umfasst die Nationale Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus?

    Der Fokus der Nationalen Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus liegt auf der Verhaltensprävention durch nicht stigmatisierende Information und Aufklärung zu Diabetes und seinen Risiko- und Schutzfaktoren – inbesondere zu Typ-2-Diabetes. Die Strategie soll dazu beitragen, dass in der Bevölkerung der Wissensstand über Diabetes verbessert, die gesellschaftliche Akzeptanz der Erkrankung gesteigert sowie das präventive und gesundheitsförderliche Verhalten gestärkt werden. Gemeinsam mit dem Fachbeirat wurden hierzu drei Handlungsfelder formuliert.

    Handlungsfeld I „Diabetes vermeiden“ fokussiert auf die Primärprävention des Typ-2-Diabetes und die Gesundheitsförderung. Dabei werden insbesondere die Risikofaktoren Übergewicht und Adipositas, körperliche Inaktivität, unausgewogene Ernährung sowie Rauchen adressiert.Handlungsfeld II „Diabetes früh erkennen“ setzt den Schwerpunkt auf die sekundärpräventiven Früherkennungsmöglichkeiten hinsichtlich Typ-2-Diabetes und Gestationsdiabetes, die die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung kostenlos in Anspruch nehmen können.Handlungsfeld III „Diabetes gut behandeln“ legt den Schwerpunkt auf die Vermeidung oder Abmilderung diabetesspezifischer Komplikationen bzw. Folgeerkrankungen durch verbesserte Kenntnis von Möglichkeiten, wie ein bereits bestehender Diabetes gut behandelt werden kann und sich nicht weiter verschlimmert.


    Welche Zielgruppen sollen angesprochen werden?

    Generell soll die Strategie die Allgemeinbevölkerung ab 18 Jahren ansprechen. Wichtige Teilzielgruppen sind Menschen mit einem besonderen Diabetesrisiko (medizinische Aspekte: z. B. Menschen mit genetischer Disposition, übergewichtige Menschen, schwangere Frauen), vulnerable Gruppen (soziale Aspekte: z. B. Menschen mit Migrationshintergrund, niedrigem sozioökonomischem Status, geringerer Bildung, höherem Lebensalter) sowie Menschen mit Diabetes. Dabei werden auch die in den Lebenswelten wichtigen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wie medizinisches Fachpersonal (u. a. Ärzteschaft, Ernährungsberaterinnen und Ernährungsberater, Diabetesberaterinnen und Diabetesberater) sowie pädagogisches Fachpersonal (u. a. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte) einbezogen.


    Welche Unterstützung leistet das derzeit in der Gründung befindliche Kooperationsnetzwerk zur Diabetesprävention?

    Es gibt in Deutschland bereits zahlreiche Akteurinnen und Akteure, die zu Diabetes und seinen Risiko- und Schutzfaktoren Aufklärungsarbeit leisten. Um hier Synergieeffekte zu nutzen und Lücken aufzuzeigen, soll ein Kooperationsnetzwerk aufgebaut werden. In diesem sollen prioritäre konkrete Ziele formuliert und darauf aubauend die weitere qualitätsgesicherte Maßnahmenplanung und -umsetzung erfolgen. Die Vielfalt der Akteurinnen und Akteure mit ihren unterschiedlichen Präventionsansätzen bleibt erhalten und unterstützt die Weiterentwicklung innovativer Kommunikationsansätze. In die Maßnahmenplanung und -umsetzung fließen auch Ergebnisse der Projekte ein, die bereits im Rahmen der Strategieentwicklung durchgeführt wurden und auf die aufgebaut werden kann. Im Fokus steht dabei das Diabe-tesinformationsportal diabinfo.de, das bereits als zentrale Plattform für die Verbreitung von Informationen zu Diabetes entwickelt wurde und weiterentwickelt wird.


    Wie geht es weiter?

    Die im November 2022 veröffentlichte Nationale Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus ist als Grundstein zu verstehen. Nun gilt es, zusammen im Rahmen des aufzubauenden Kooperationsnetzwerks „Diabetesnetz Deutschland – gemeinsam gesünder“ die Strategie wirksam in die Praxis umzusetzen und weiterzuentwickeln. Die Herausforderungen liegen dabei in der Komplexität der Diabetesprävention, in der Entwicklung eines integrierten und abgestimmten Umsetzungskonzepts und darin, die Nachhaltigkeit der Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie sicherzustellen. Das Kooperationsnetzwerk bietet die Chance, der Diabetesprävention mehr Sichtbarkeit und mehr Gewicht zu geben und sie damit weiter nach vorne zu bringen.


    Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

    Lesen Sie dazu auch:

    Interview mit BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, MdB: „Es muss einfacher werden, einen gesunden Alltag zu leben“.

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Klimawandel: Interview mit Prof. Dr. Susanne Moebus, Direktorin des Instituts für Urban Public Health am Universitätsklinikum Essen und Keynote-Speaker des Präventionsforums 2022: „Klimawandel und Gesundheit können zum positiven Narrativ werden“.

    Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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    Prof. Dr. Martin Dietrich | Seit 2021 Kommissarischer Direktor der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), zuvor stellvertretender Leiter. W3-Professur für Betriebswirtschaftslehre (BWL) an der Universität des Saarlandes, Management des Gesundheitswesens, Schwerpunkt Innovation und Versorgungsentwicklung, seit 2017 Honorarprofessor. Studium der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Management im Gesundheitswesen.

    Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bereitet Informationen zur Prävention und Gesundheitsförderung adressatengerecht auf und koordiniert ihre Dissemination. Dies umfasst die Entwicklung von Konzepten und Materialien (z. B. Anzeigen, Plakate, Broschüren, audiovisuelle Medien, Ausstellungen, Mehrebenenkampagnen) und ihre Streuung in Zielgruppen sowie die Evaluation der Maßnahmen. Die BZgA unterstützt zudem die Qualitätsentwicklung in der Prävention und Gesundheitsförderung

    Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Health in All Policies„Die Umsetzung von Health in All Policies erfordert die Beteiligung ALLER!“

    Dr. Katharina Böhm, Geschäftsführerin der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE), über das erste deutschsprachige HiAP-Standardwerk „Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Konzept Health in All Policies und seine Umsetzung in Deutschland“.

    Um Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung zu erlangen, gilt das Konzept „Gesundheit in allen Politikbereichen“ (Health in All Policies, HiAP) als vielversprechend. Einige Länder in Europa, wie z.B. Finnland, und weltweit, wie z.B. Neuseeland, zeigen erste Erfolge mit der Umsetzung einer intersektoralen Gesundheitspolitik. In Deutschland gibt es bereits erste Ansätze. Auch das Präventionsforum, der Informations- und Erfahrungsaustausch zwischen der Nationalen Präventionskonferenz und der Fachöffentlichkeit, widmete sich im Jahr 2020 diesem Fachthema.

    Frau Dr. Böhm, Sie sind Mitherausgeberin des ersten Standardwerkes zum Thema Health in All Policies, kurz HiAP, in Deutschland. Wo stehen wir?

    Genau das wollten wir mit dem Buch herausfinden! Der HiAP-Ansatz ist ja nicht neu. Die Forderung nach intersektoraler Zusammenarbeit findet sich schon in der Erklärung von Alma Atta, die dann in der Ottawa Charta zur einer Forderung nach einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik (healthy public policies) weiterentwickelt wurde. Der HiAP-Ansatz geht noch einen Schritt weiter, indem er die Komplexität moderner Gesellschaften und der damit einhergehenden, eher netzwerkartigen Politikgestaltung berücksichtigt.

    HiAP bedeutet eine strategische Zusammenarbeit aller Politikebenen und –felder (whole of government) sowie eine Zusammenarbeit aller Sektoren, also staatlich, gesellschaftlich und privat (whole of society).


    Was heißt das nun für Deutschland?

    Obwohl der HiAP-Ansatz nicht neu ist, wissen wir ziemlich wenig über die Umsetzung in Deutschland, weil es hierzu kaum Forschung gibt. Zudem gibt es viele Initiativen und Maßnahmen, die den Gedanken von HiAP verfolgen, ohne dass dies dabei explizit gemacht wird. Unser Buch ist eine Art Bestandsaufnahme der Umsetzung von HiAP in Deutschland.

    Wir haben deshalb Expertinnen und Experten aus vielen unterschiedlichen Politikfeldern gefragt, welche Rolle Gesundheit in ihrem Politikfeld spielt und welche Herausforderungen und Chancen sie in der Berücksichtigung von Gesundheitsaspekten sehen. Zusätzlich haben wir Praxisbeispiele recherchiert, um möglichst viele unterschiedliche Umsetzungsbeispiele aufzeigen zu können.

    Die Beiträge in unserem Band zeigen, dass es viele HiAP-Aktivitäten auf allen politischen Ebenen gibt. Gleichzeitig machen sie aber auch deutlich, dass die HiAP-Umsetzung in Deutschland erst am Anfang steht.

    Woran machen Sie das fest?

    Gesundheit und gesundheitliche Chancengleichheit werden in Deutschland bislang in kaum einem Politikfeld umfassend und systematisch berücksichtigt. Es gibt einige Politikfelder, wie beispielsweise Umweltschutz und Bildung, in denen Gesundheit in gesetzlichen Grundlagen und Konzepten mitverankert ist. Es gibt aber auch viele Politikfelder, in denen der Gesundheitsbezug auf einzelne Themen beschränkt bleibt. Wenn Gesundheit berücksichtigt wird, dann oft eher mit dem Ziel der Vermeidung von Gesundheitsgefahren und/oder einem Fokus auf medizinische oder verhaltensbezogene Maßnahmen. Eine gesundheitsförderliche Perspektive findet sich selten.

    Die Praxisbeispiele in unserem Buch beschreiben zudem, wie schwierig es oftmals ist, intersektorale Kooperationen umzusetzen. Sie machen aber gleichzeitig auch Mut, dass eine Umsetzung gelingen kann, wenn politischer Wille, eine offene Haltung und Transparenz sowie die Berücksichtigung der Bedürfnisse und Ressourcen aller Beteiligten gegeben sind.

    Mit der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) und der Offensive Psychische Gesundheit (OPG) ist ressortübergreifende Zusammenarbeit in Deutschland bereits vorzufinden, auch das Präventionsgesetz spielt eine Rolle in der Implementierung von HiAP. Sind das denn nicht bereits Schritte in die richtige Richtung?

    Ja, das stimmt. Bei den beiden genannten Initiativen ist durch die Beteiligung mehrerer Bundesministerien, zahlreicher Sozialversicherungsträger, Verbände und anderer zivilgesellschaftlichen Akteure sowohl ein whole of government- als auch ein whole of society-Ansatz verwirklicht. Die OPG hat sich zudem zum Ziel gesetzt, eine Bestandsaufnahme der Präventionsangebote in Deutschland zu machen, gemeinsame Ziele zu definieren und die bestehenden Angebote besser zu vernetzen. Am Ende des Prozesses könnte somit eine von vielen Akteuren getragene Strategie zur Verbesserung der Prävention psychischer Erkrankungen stehen.


    Wo sehen Sie hemmende Faktoren, die einer breiteren Umsetzung des HiAP-Ansatzes im Wege stehen?

    Das Präventionsgesetz zeigt sehr deutlich die Hürden bei der Umsetzung von HiAP in unserem föderalen System. Das Gesetz verpflichtet ausschließlich die Sozialversicherungsträger, in der Gesundheitsförderung und Prävention tätig zu werden. Andere relevante Präventionsakteure sind zwar zum Teil im Gesetz genannt, konnten aber aufgrund der begrenzten Handlungsmacht des Bundes bei der Gesundheitsförderung und Prävention nicht vom Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet werden.

    Eine Präventionsstrategie im Sinne von HiAP würde aber eine Beteiligung ALLER Akteure, von den Kommunen über die Länder bis hin zu den zivilgesellschaftlichen Akteuren aus allen gesundheitsrelevanten Bereichen erfordern. Diese müssten in einem partizipativen Prozess auf Grundlage einer umfassenden Bestands- und Bedarfsanalyse gemeinsame Ziele definieren. Danach müssten entsprechende, abgestimmte Maßnahmen für die einzelnen politischen Ebenen und Akteure formuliert werden. Von einer solchen Gesamtstrategie sind wir in Deutschland aber noch sehr weit entfernt. Hier sind andere Länder wie Neuseeland oder die Niederlande schon sehr viel weiter.

    Sie schreiben, dass die Maßnahmen sich bislang eher am Gesundheitsschutz als an der Gesundheitsförderung orientieren. Wie kann es gelingen, dass die gesundheitsförderlichen Aspekte noch mehr Beachtung finden?

    Grundsätzliches Ziel muss es sein, die gesamte Bevölkerung mit einem salutogenen Gesundheitsverständnis vertraut zu machen und über die Determinanten von Gesundheit zu informieren. Dies gilt insbesondere für Fachexpertinnen und Fachexperten anderer Politiksektoren. Sie müssen befähigt werden, gesundheitsförderlich zu handeln.

    Gleichzeitig benötigen wir Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten, die über Fachexpertise in anderen Bereichen verfügen, um dort bei Entscheidungsprozessen eine gesundheitsförderliche Sichtweise einbringen zu können. Dies sind zwei der zentralen Erkenntnisse, die wir bei der Arbeit an dem Sammelband gewonnen haben.

    Zudem müssen Prozesse etabliert werden, die bei allen relevanten Entscheidungen sicherstellen, dass Gesundheit in einem umfassenden Verständnis mitgedacht wird.


    Am Ende des Buches bündeln Sie Ihre Erkenntnisse in acht Thesen.

    Ja, zwei hatte ich gerade genannt:

    • Akteure anderer Politikfelder sind mit einem salutogenen Gesundheitsverständnis vertraut zu machen.
    • Gesundheitsexpertinnen und Gesundheitsexperten benötigen Policy-Wissen für die Kooperationen.

    Die anderen sechs Thesen lauten:

    • HiAP bedarf der politischen Unterstützung.
    • Kommunen sind Vorreiter bei der Umsetzung von HiAP.
    • HiAP erfordert eine Politikfelder und -ebenen übergreifende Strategie.
    • Die Sustainable Development Goals und deren Umsetzung bieten einen guten Bezugspunkt, um HiAP voranzubringen.
    • Ein erhöhter Problemdruck bietet die Chance, HiAP substanziell weiterzuentwickeln.
    • HiAP erfordert häufig die Aushandlung gegenläufiger Interessen.

    Für die Menschen, die im Feld der Gesundheitsförderung und Prävention tätig sind, sind das alles vermutlich keine überraschenden Ergebnisse. Mit unserem Sammelband zielen wir aber vor allem auch auf Interessierte, die nicht aus dem Gesundheitsfeld kommen und sich eventuell das erste Mal mit dem Thema auseinandersetzen. Wir wollen mit diesen Thesen den intersektoralen Austausch anregen und die Diskussion um die Umsetzung von HiAP in Deutschland voranbringen!

    Nun gibt es ja den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, der die Gesundheitsämter in den nächsten Jahren auf vielen Ebenen stärken soll. Was ist denn aus Ihrer Sicht notwendig, damit der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) in Zukunft eine stärkere Rolle bei der Umsetzung von HiAP einnehmen kann?

    Zum einen braucht es Fachkräfte mit vielfältigen Expertisen, die die Aufgabe übernehmen können, Gesundheitsinteressen bei Fachentscheidungen in anderen Ressorts, beispielsweise bei Stadtentwicklungsprozessen, der Umweltplanung oder Sozialplanung, zu vertreten. Zum anderen bedarf es auch einer Stärkung der Steuerungsrolle des ÖGD auf kommunaler Ebene.

    HiAP ist ein strategischer Prozess, der strukturiert, moderiert und organisiert werden muss. Diese Aufgaben kann der ÖGD aber nur übernehmen, wenn ausreichend Ressourcen und entsprechendes Fachpersonal vorhanden sind!


    Die Fragen stellte Linda Arzberger, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

    Lesen Sie dazu auch:

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health in All Policies. Interview mit Prof. Dr. Ilona Kickbusch.

    Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten erfahren Sie hier.

    Möchten Sie über Neues und Wissenswertes zu Prävention und Gesundheitsförderung auf dem Laufenden gehalten werden? Hier können Sie unseren monatlich erscheinenden Newsletter bestellen.

    Dr. Katharina Böhm | Seit Juli 2020 Geschäftsführerin der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE); davor Juniorprofessorin für Gesundheitspolitik an der Ruhr-Universität Bochum mit den Arbeitsschwerpunkten: kommunale Gesundheitspolitik, Präventionspolitik, Health in All Policies und internationaler Gesundheitssystemvergleich.

    Die Hessische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE) wurde 1958 mit dem Ziel gegründet, die Gesundheit der hessischen Bevölkerung zu verbessern. Sie versteht sich als Brückeninstanz zwischen Praxis, Wissenschaft und Politik und wirkt als Interessensvertretung für Gesundheitsförderung. Die HAGE initiiert und koordiniert die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention u. a. in den Bereichen Gesundheitliche Chancengleichheit, Gesund aufwachsen, bleiben und altern.

    Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt PsycheOffensive Psychische Gesundheit: #OffenheitHilft!

    Im Oktober hat die Bundesregierung die Offensive Psychische Gesundheit (OPG) gestartet. Ziel der Offensive ist, die psychische Gesundheit in allen Lebensbereichen zu stärken: durch mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Belastungen und durch frühzeitige Hilfe über eine stärkere Vernetzung der Unterstützungs- und Hilfsangebote.

    Die Offensive Psychische Gesundheit (OPG) wurde von drei Ministerien ins Leben gerufen, beteiligt sind das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und das Bundesministerium für Gesundheit. Was ist das Besondere an der OPG aus Sicht Ihrer Institution?

    Annette Schlipphak, BDP: Das Besondere an der Offensive Psychische Gesundheit ist, dass sie explizit dazu dient, dass der gesellschaftliche Umgang mit psychischen Belastungen offener wird und auch die weichen Faktoren im Arbeitsalltag offen angesprochen werden. Dabei wird deutlich, dass nicht der Fokus auf die oder den Einzelnen zu einer Lösung führt, sondern ein systemischer und organisatorischer Ansatz zur Gestaltung gesunder Arbeit entscheidend ist. Damit bietet die Offensive eine Chance, nicht nur psychische Belastungen zu entstigmatisieren, sondern auch die Rahmenbedingungen von Arbeit als Einflussfaktoren auf psychische Gesundheit zu beleuchten.

    Dr. Dietrich Munz, BPtK: Psychische Erkrankungen in der Arbeitswelt sind noch immer erheblich unterschätzt. Dabei kosten sie jährlich Milliarden Euro an Lohnfortzahlung und Krankengeld. Gerade in der Arbeitswelt gelten psychische Erkrankungen jedoch noch häufig als Leistungs- und Willensschwäche. Es fehlt ein offener und zugewandter Umgang mit psychisch belasteten Kolleginnen und Kollegen. Die Angst vor Stigmatisierung verhindert noch zu oft, dass psychische Beschwerden eingestanden werden und Hilfe in Anspruch genommen wird.

    Genau hier setzt die Offensive Psychische Gesundheit an. Als breites Bündnis will sie den Umgang mit psychischen Belastungen normalisieren. Dies ist essenziell, denn Offenheit im Umgang mit psychischen Beschwerden ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Betroffene Hilfe in Anspruch nehmen. Doch dies allein reicht noch nicht aus. Grundlegend ist, dass Betroffene wissen, welche Unterstützung für sie in Betracht kommt. Hierfür braucht es eine enge und transparente Verzahnung von Hilfsangeboten, die nur dadurch entstehen kann, dass alle Player im Bereich der Prävention mit Expertinnen und Experten für psychische Gesundheit eng zusammenarbeiten. Die Offensive Psychische Gesundheit schafft diese bisher einmalige Kooperationsplattform.

    Prof. Dr. Markus Bühner, DGPs: Psychische Störungen sind noch zu oft stigmatisiert, das Wissen über sie und wirksame Behandlungsformen in der Allgemeinbevölkerung ist begrenzt. Durch die gemeinsame Initiative dreier Bundesministerien kann die Bevölkerung effektiv erreicht und informiert werden. Außerdem können Behandlungsangebote und Zugangspfade besser gebündelt werden.

    Die Zusammenarbeit der drei Ressorts ist aus unserer Sicht von zentraler Bedeutung, da so die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Lebensbereichen sichtbar gemacht werden. In der Praxis mangelt es häufig an der Betrachtung des gesamten Systems und wie sich Belastungen aus einem Bereich (z. B. der Arbeit) auf einen anderen auswirken (z. B. die Familie). Bedeutsam ist auch die breite Beteiligung von Akteuren des Gesundheitswesens, der Versorgung und der Wissenschaft: Dies ist ein wichtiges Zeichen, unterstreicht die Bedeutung der Thematik und wird sicher zum Erfolg der Offensive beitragen.

    Prof. Dr. Bernd Röhrle, DGVT: Die Initiative ist insgesamt begrüßenswert, weil sie neben der bislang im Vordergrund stehenden physischen Gesundheit endlich der psychischen Gesundheit einen entsprechenden Stellenwert einräumt. Erfreulich ist dabei, dass nicht mehr nur an die Vermeidung psychischer Krankheiten gedacht wird, sondern auch die individuellen, kollektiven und verhältnisorientierten Risiken, aber auch die vielfältigen Formen des Wohlbefindens in ihrer Bedeutung erkannt werden.

    Nicht zuletzt wird damit unausgesprochen mitgedacht, dass man dem Problem der psychischen Störungen nicht allein kurativ begegnen kann, um individuelles, kollektives Leid und auch wirtschaftliche Folgekosten in den Griff zu bekommen. Durch die salutogene Orientierung der Initiative ist zugleich ein Beitrag geleistet, der ein gesellschaftlich und individuell getragenes, respektvolles Zusammenleben fördern kann.


    Warum spielt die Prävention eine entscheidende Rolle bei der Stärkung der psychischen Gesundheit – und inwiefern gerade jetzt in der Corona-Pandemie?

    BDP: Psychische Gesundheit wird von vielen Faktoren beeinflusst. Durch die Pandemie werden bei vielen Menschen gewohnte Muster und Abläufe geändert: Homeschooling, Mobiles Arbeiten, Kurzarbeit, Angst vor Arbeitslosigkeit, Unsicherheit über das, was kommt. Diese Faktoren wirken sich auch auf das Verhalten am Arbeitsplatz bei Führungskräften und Beschäftigten aus. Auch unabhängig von Corona ist gesunde Arbeit im beruflichen Kontext die beste Prävention. Gerade jetzt in der Zeit der Pandemie sollte über die Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung genau analysiert werden, wo die Belastungs- und Beanspruchungsfaktoren liegen. Gute Präventionsarbeit wird letztlich dazu beitragen, dass die Menschen die Pandemie besser bewältigen können.

    BPtK: Die Corona-Pandemie ist ein Paradebeispiel für das Potenzial von Präventionsmaßnahmen. Doch diese dürfen sich keinesfalls nur auf die körperliche Gesundheit beschränken. Denn die Pandemie stellt unsere Selbstheilungskräfte vor außergewöhnliche Herausforderungen. Je länger Krisen andauern, desto eher sind die psychischen Widerstands- und Regenerationskräfte überfordert und es kann zu psychischen Erkrankungen kommen.

    Viele Menschen sind momentan unsicher, verängstigt und niedergeschlagen. Dies sind normale Reaktionen auf belastende Ereignisse. Doch diese Belastungen sind nicht gleich verteilt. Manche Menschen sind körperlich vorerkrankt und deshalb durch das Virus besonders gefährdet. Manche trifft die Pandemie härter, weil sie selbst oder Angehörige erkrankt sind oder weil sie beruflich ständigen Kontakt mit Erkrankten haben. Andere müssen vor allem mit dem Wegfall gewohnter Tagesstrukturen und Betreuungs- und Pflegeangebote klarkommen.

    Im Moment ist es klarer denn je, dass wir langfristig für ein Leben mit dem Virus planen müssen. Um gefährdete Personengruppen vor den negativen psychischen und sozialen Konsequenzen der Pandemie zu schützen, müssen passende Schutz- und Präventionskonzepte entwickelt und flächendeckend implementiert werden.

    DGPs: Wir betrachten Prävention zur Stärkung psychischer Gesundheit aus einer ganzheitlichen Perspektive. Maßnahmen sollten in allen Lebensbereichen, in beruflichen wie in privaten, ansetzen. Durch die Auswirkungen der Pandemie sind breite Bevölkerungsanteile zunehmend chronischem Stress ausgesetzt. Chronische Stressoren sind einer der wichtigsten Treiber für die Entstehung psychischer Störungen. Daher sollten wir zur Prävention psychischer Störungen in Folge der Corona-Krise zum Beispiel niederschwellige Hilfsangebote anbieten.

    Dabei ist es wichtig, Familien in den Blick zu nehmen. Fünfzig Prozent aller psychischen Störungen beginnen vor dem 14. Lebensalter und 75 Prozent vor dem 24. Lebensjahr. Das heißt, es hat den bestmöglichen Effekt, wenn Belastungen frühzeitig reduziert werden. Aus der Forschung zu Familien mit psychischen Erkrankungen wissen wir, dass die transgenerationale Weitergabe psychischer Störungen ein Hauptfaktor für die Entwicklung psychischer Erkrankungen ist. Insofern ist die Unterstützung von Eltern und Familien insbesondere in Zeiten von Homeoffice, Homeschooling und von Kontakteinschränkungen von herausragender Bedeutung.

    DGVT: Dass diese Offensive bewusst oder auch zufällig in Coronazeiten gestartet wird, ist umso erfreulicher, weil damit nochmals mehr verdeutlicht wird, dass sich die Gefahren für die psychische Gesundheit von vielen mit der Pandemie einhergehenden Begleitumständen und schon vorab bestandenen Risiken und kollektive Belastungen verschärfen. Damit wird einmal mehr die Bedeutung verhältnisorientierter Prävention betont. Die DGVT hat zusammen mit dem German Network for Mental Health schon im Frühjahr in einem Statement festgehalten, welche Auswirkungen die Pandemie direkt, aber auch vermittelt durch eine Vielzahl von gesellschaftlichen Kräften auf Menschen mit psychischer Erkrankung und gesunde Personen.

    Inzwischen haben viele Forschungsergebnisse zu den psychischen und sozialen Folgen der Pandemie diese ersten Eindrücke bestärkt: Die Belastung vulnerabler, auch psychisch kranker Personen, aber auch die gesunder Menschen ist durch die Pandemie erheblich verstärkt. Sozial benachteiligte Personen trifft es besonders hart. Konflikte verschärfen sich, wie beispielsweise innerfamiliäre Gewalt, aber auch durch Verschwörungstheorien getragene soziale Spaltungen. Sozialpolitische Engpässe gefährden nicht nur COVID-19-Patientinnen und -Patienten, sondern auch ihre formellen und informellen Helferinnen und Helfer. Die Pandemie macht deutlich, dass sich Prävention nicht allein auf mikrosoziale Zusammenhänge konzentrieren darf, sondern einen Plan braucht, Katastrophen geordnet zu begegnen. Die Förderung der psychischen Gesundheit muss ein Teil eines entsprechend zukünftigen Rettungsplans sein.


    Mit welchen Maßnahmen unterstützt Ihre Organisation als First Starter die Offensive?

    BDP: Als Berufsverband vertritt der BDP Psychologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die angestellt oder freiberuflich arbeiten. Die Offensive Psychische Gesundheit unterstützen wir von Anfang an und bringen uns mit unserer Expertise ein. Als FirstStarter legen wir den Fokus auf den Schwerpunkt gesunde Arbeit. Der BDP stellt Materialien und Handreichungen zu Arbeit und Gesundheit über die Webseite unseres Verbandes kostenfrei zur Verfügung. Zudem können über das Portal des Berufsverbandes Expertinnen und Experten für diese Themen gefunden werden.

    BPtK: Als Bundeskammer vertreten wir 52.000 Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten. Es ist unser Anliegen, eine ausreichende psychotherapeutische Versorgung im kurativen, präventiven und rehabilitativen Bereich sicherzustellen. Deswegen bemühen wir uns seit jeher um Kooperationen mit unterschiedlichen Beteiligten in diesen Bereichen, um auf eine Stärkung der psychischen Gesundheit – ein zentrales Ziel der BPtK – hinzuwirken.

    Als First Starter unterstützen wir die Offensive Psychische Gesundheit von Anfang an. Wir tragen die Botschaft der Offensive aktiv mit und beteiligen uns an ihrer fachlichen Konzeption und Umsetzung. In die Fachdialoge der Offensive Psychische Gesundheit bringen wir unsere Fachexpertise zum Umgang mit psychisch belasteten und erkrankten Menschen ein. Essenziell ist es für uns, die Gesellschaft für psychische Belastungen und Erkrankungen zu sensibilisieren und einen frühzeitigen und niedrigschwelligen Zugang zu Unterstützungsangeboten zu gewährleisten. Hierfür machen wir uns seit Jahren stark.

    DGPs: Die DGPs vertritt Psychologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die in akademischen Berufen arbeiten. Hierzu zählen auch die universitären Hochschulambulanzen, die jährlich mehr als 50.000 Patientinnen und Patienten ambulant psychotherapeutisch versorgen. Unsere Einrichtungen leisten damit einen bedeutsamen Beitrag zur Entwicklung und Evaluation innovativer Psychotherapien, aber auch zur Patientenversorgung.

    Sehr gerne bringen wir unsere klinische und wissenschaftliche Kompetenz in die Offensive ein. Auch auf dem Gebiet der Gestaltung und Evaluation von Präventionskampagnen bringen wir unsere Expertise mit ein. Die DGPs hat gleich zu Beginn der Pandemie gemeinsam mit ihren Mitgliedern eine Website zur psychologischen Coronahilfe erstellt. Diese Seite bietet für die Zielgruppen Kinder, Jugendliche, Familien, Erwachsene und Personen im Versorgungssystem Hilfestellungen. Im Rahmen dieser Initiative wurde auch das Projekt „Familien unter Druck“ entwickelt für das Franziska Giffey die Schirmherrschaft übernommen hat und das Teil der Offensive ist. In kurzen animierten Trickfilmen, deren Charakteren Prominente ihre Stimme geliehen haben, werden evidenzbasierte Tipps zum Umgang mit Belastungen gezeigt.


    Was erhoffen Sie sich aus der Arbeit der Offensive – auch in Hinblick auf die Corona-Pandemie?

    DGVT: Begrüßenswert ist die durch die Offensive vorgeschlagene Liste von präventiv bedeutsamen Hilfemöglichkeiten. Angesprochen wird dabei vornehmlich die berufliche und familiäre Welt. Nicht thematisiert werden allerdings andere gesellschaftliche Bereiche und Institutionen, wie die Welt der Ausbildung, der sozialen Netzwerke, Selbsthilfegruppen (mit Ausnahme der Betroffenenorganisationen), von Verbänden und Parteien.

    Sich auf Beratungsangebote zu konzentrieren, kann nicht genügen, da in diesem Bereich der kurative Anteil überwiegt und wenig Platz für präventive Angebote bleibt. Für eine Vielzahl von kritischen Lebensereignissen gibt es in den Beratungsstellen und darüber hinaus zu wenig präventiv bedeutsame Angebote, wie z. B. für Kinder psychisch kranker Eltern. In gleichem Maße fehlt es auch an störungsspezifischen Angeboten wie beispielsweise Hilfen für Menschen, die zu Angststörungen, Depression, Essstörungen, Psychosen etc. neigen. Hier ist eine Verbesserung dringend erforderlich.


    Die Fragen stellte Linda Arzberger, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung.

    Lesen Sie dazu auch:

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health in All Policies, Interview mit Prof. Dr. Ilona Kickbusch.

    Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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    Annette Schlipphak | Vizepräsidentin des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.; Personalentwicklung; Betriebliches Gesundheitsmanagement; Coaching; Arbeitsschwerpunkte: Gesundheit und Arbeit, Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung; Diplom-Psychologin.

    Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) vertritt die beruflichen Interessen der niedergelassenen, selbstständigen und angestellten/beamteten Psychologinnen und Psychologen aus allen Tätigkeitsbereichen. Als anerkannter Berufs- und Fachverband ist der BDP Ansprechpartner und Informant für Politik, Medien und Öffentlichkeit in allen Fragen der beruflichen Anwendung von Psychologie und Psychotherapie.

    Dr. rer. nat. Ernst Dietrich Munz | Präsident des Vorstandes der Bundespsychotherapeutenkammer; Präsident der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg; Diplom-Psychologe, Diplom-Physiker, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalyse; Psychotherapeut an der Sonnenberg Klinik gGmbH in Stuttgart; Dozent am Psychoanalytischen Institut Stuttgart e.V.

    Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) ist die berufspolitische Vertretung der momentan rund 52.000 Psychologischen Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen in Deutschland. Als diese ist es ihr Anliegen, eine ausreichende psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung im kurativen, präventiven und rehabilitativen Bereich sicherzustellen.

    Prof. Dr. Markus Bühner | Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie; seit 2011 Lehrstuhlinhaber der Professur für Psychologische Methodenlehre und Diagnostik an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Er forscht zur Vorhersage von Persönlichkeitseigenschaften durch mobile Daten, zur Vorhersage von Ausbildungs- und Berufserfolg durch Persönlichkeitstests, Leistungstests, Assessment-Center-Übungen und strukturierten Interviews sowie Auswirkungen der Fragenformulierung auf psychometrische Eigenschaften eines Fragebogens.

    Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie e.V. (DGPs) ist die Vereinigung der in Forschung und Lehre tätigen Psychologinnen und Psychologen. Die über 4.800 Mitglieder der DGPs erforschen das Erleben und Verhalten des Menschen. Sie publizieren, lehren und beziehen Stellung in der Welt der Universitäten, in der Forschung, der Politik und im Alltag.

    Prof. Dr. Bernd Röhrle | Professor für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Gemeindepsychologie i.R., Supervisor, Psychotherapeut, Leiter des German Network for Mental Health (GNMH), Schwerpunkt seiner politischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten: Prävention psychischer Störung und Förderung psychischer Gesundheit.

    Die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e.V. (DGVT) ist mit rund 9.880 Mitgliedern der größte verhaltenstherapeutische Fachverband in Europa. Seit 1968 tritt die DGVT für eine bedarfsgerechte psychosoziale und psychotherapeutische Versorgung ein. Zum DGVT-Verbund gehört die DGVT-AusbildungsAkademie, der DGVT-Berufsverband Psychosoziale Berufe (DGVT-BV) e.V., die DGVT- Fort- und Weiterbildung und der DGVT-Verlag.

    Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Health in All Policies„Jetzt ist es wichtig zu sagen: Wir schaffen in Deutschland das modernste Öffentliche Gesundheitswesen der Welt!“

    Die weltweit renommierte Professorin im Feld der Gesundheitsförderung, Ilona Kickbusch, über Health in All Policies, die internationale Bedeutung und Umsetzung des Begriffes „Wellbeing“ und darüber, für wie bedeutsam sie es erachtet, jetzt in Deutschland das modernste Öffentliche Gesundheitswesen der Welt zu schaffen.

    Frau Kickbusch, wir wissen seit Verabschiedung der Ottawa-Charta, also seit mehr als 30 Jahren: Gesundheit wird in den Lebenswelten der Menschen erzeugt und erhalten und ist vor allem von Faktoren abhängig, die nicht primär durch das Gesundheitssystem selbst beeinflussbar sind weshalb „Health in All Policies“ ein wichtiger Grundsatz der Gesundheitsförderung ist. Dennoch haben sich gesundheitsfördernde Gesamtpolitiken bislang noch nicht so richtig durchsetzen können – zumindest in Deutschland nicht. Woran liegt das?

    Um dies zu beantworten, möchte ich zeitlich noch etwas früher anfangen. Die Ottawa-Charta hat ja eigentlich „nur“ Wissen zusammengetragen, das schon sehr lange vorhanden war. In Deutschland hat beispielsweise Rudolf Virchow anlässlich der Cholera-Epidemie in Schlesien ganz klar gesagt, dass es die Armut und die sozialen Ungleichheiten sind, die zu den extremen Cholera-Ausbrüchen geführt haben.

    Es ist also ein Wissen, das wir in Public Health schon sehr lange haben, das aber in der Politik nur selten ernst genommen wurde und selten bewusst eingesetzt worden ist. Es war eine unserer Aufgaben, mit der Ottawa Charta gerade dieses Public Health-Wissen wieder in den Vordergrund zu bringen und zu zeigen, was dieses Wissen für die modernen Gesellschaften, also damals Mitte der 1980er Jahre, bedeutet. So lautete dann auch der Untertitel „Towards a new public health“.

    Zudem hat Health in All Policies ja zwei Dimensionen: Wenn ein Staat „gut regiert ist“, wenn es soziale Absicherung und weniger soziale Ungleichheiten gibt, dann ist von vornherein eine bessere Gesundheit „garantiert“. Andererseits geht es aber auch um das bewusste Bemühen um Gesundheit in möglichst allen Politikbereichen. Diese zwei Aspekte muss man immer miteinander verbinden. Also anerkennen, wenn in anderen Politikbereichen etwas gemacht wird, das der Gesundheit dient und zum anderen proaktiv Co-Produktionen zu schaffen.

    Die Relevanz dieser Co-Produktionen haben wir in dem südaustralischen Projekt zu Health in All Policies, an dem ich mitgearbeitet habe, versucht zu verdeutlichen. Es gilt also, gemeinsam zu arbeiten, also zum Beispiel ein Umweltministerium und ein Gesundheitsministerium oder ein Verkehrsamt mit einem Gesundheitsamt. Das heißt mit anderen Worten die Frage zu beantworten: Wo finden wir Politikansätze, durch die in der Zusammenarbeit jeder Bereich gewinnt?

    In unserer Arbeit zu Health in All Policies haben wir festgestellt: Je näher die Politikbereiche an den Menschen sind, wie zum Beispiel im Kommunalbereich, umso besser und schneller ist Health in All Policies umsetzbar und umso häufiger ist auch ein größerer politischer Wille dafür vorhanden. Man ist einfach näher an den Menschen und die Menschen sind näher an der Politik.


    Wie gelingt die Umsetzung auf der nationalen Ebene?

    Auf nationaler Ebene ergeben sich zwei Anknüpfungspunkte: Zum einen gibt es die sogenannten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals (SDG), die ganz klar in allen Bereichen, auch in Bezug auf Gesundheit, ein Modell entwickelt haben, mit dem Ziel, dass alle Politikbereiche in Co-Produktion zusammenarbeiten müssen, damit wir eine nachhaltige Gesellschaft schaffen können. Dadurch hat sich für Health in All Policies auf nationaler Ebene mehr getan, wie wir in verschiedenen SDG-Analysen festgestellt haben.

    Zum anderen hat sich teilweise unter einer anderen Terminologie etwas getan – und das ist hier sehr wichtig zu erwähnen: Wir sehen, dass vor allem im englisch-sprachigem Raum und dort, wo es ins Englische übersetzt wird, der Begriff Wellbeing sehr viel häufiger benutzt wird. Wir sehen auch in der Umsetzung von Health in All Policies, wie eingangs genannt in Australien oder auch aus anderen Bereichen, dass der Wellbeing-Begriff sehr viel anschlussfähiger ist.

    „Health“ klingt ja häufig so: Jetzt kommen die Gesundheitsleute und wollen so eine Art Gesundheitsimperialismus einführen, wobei Gesundheit als Wert über alles andere gestellt wird. Das Konzept der Gesundheitsförderung hat zwar immer wieder betont, dass Gesundheit als gesellschaftlicher Wert wichtig ist, nicht aber der höchste Wert, hinter dem alles andere zurücksteht. Wellbeing scheint ein Begriff zu sein, der sehr viel besser auch in die Co-Produktion passt. So ist SDG 3 zum Beispiel ja auch Health and Wellbeing.


    Wie haben andere Länder ähnliche Herausforderungen bewältigt? Und wo sind die Anknüpfungspunkte in Deutschland?

    Ein ganz wichtiger Bereich der Entwicklung sind hier die Diskussionen zur „Wellbeing Economy“, zu der es viele interessante Politikansätze gibt. Schottland ist ein Beispiel, wo es auch dazu eine Beratungsgruppe der Regierung gibt. Es ist ein Denken – wir hätten es vor zehn Jahren Health in All Policies genannt – man nennt es heute Wellbeing Economy – das teilweise aufbaut auf einer neuen Art, ökonomisch zu denken. Kate Raworth hat dazu die sogenannte „doughnut economy“ entwickelt, die darauf abzielt, unsere Nachhaltigkeits- und Wohlbefindensgedanken unter anderem mit Ökonomie und Gesundheit zusammen zu bringen.

    Und Finnland, eines der führenden Länder in Health in All Policies, hat das Verständnis von Health in All Policies auf nationaler Ebene ausgeweitet und dazu beigetragen, auch in der Europäischen Union eine Diskussion über die Wellbeing Economy einzuführen. In dieser Wellbeing Economy spielen Gesundheit und Wohlbefinden als wichtige Indikatoren des Erfolgs staatlicher Politik eine bedeutende Rolle.

    Bis zur Coronakrise haben wir beobachtet, dass einige Staaten diesen Gedanken aufgegriffen haben. Beispielsweise hat Neuseeland ein sogenanntes Wellbeing-Budget eingeführt. Das dortige Bruttosozialprodukt ist nicht nur über ökonomisches Wachstum definiert, sondern muss auch alle anderen Nachhaltigkeitsziele beinhalten, so auch Gesundheit.

    Dies ist ein wichtiges Signal auch für Deutschland. Es gibt ja bereits einen Deutschen Nachhaltigkeitsrat und den Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung. Wo immer in der deutschen Regierung über Nachhaltigkeit diskutiert wird, muss man sehr dahinter sein und sehr viel mehr Druck ausüben, dass Co-Produktionen entstehen und die Gesundheit im Sinne von Health in All Policies ganz signifikant verankert wird. Denn auch der engere Begriff der Nachhaltigkeit, also der der Umwelt, ist nicht mehr von Gesundheit zu trennen.

    Es gibt außerdem derzeit sehr viel Bewegung in Politik und Gesellschaft. So sind zum  Beispiel die Vier-Tage-Woche oder der Zugang zu Kitas bereits Diskussionsthemen der Gesundheitsförderung, weil sie einiges bewirken – sowohl für die Gesundheit von Kindern wie von Müttern. Wir müssen als Gesundheitsförderer kreativer sein, wo und wie wir uns wegen dieser Co-Produktion einbringen. Und wir müssen auch ein bisschen mehr die Gesundheit vor die Parteipolitik stellen – das ist mir sehr wichtig.


    Worauf kommt es also an, wenn wir die Politik von „Health in All Policies“ nachhaltig überzeugen wollen?

    Wichtig ist, Gesundheitsförderung an gesellschaftliche Innovationen und Bewegungen für ein besseres Leben anzubinden. Man müsste noch mehr „eintauchen“ in die digitale Transformation wie beispielsweise im Hinblick auf Kindergesundheit und die Regulierung von Werbung im digitalen Bereich. Man müsste sich vielleicht auch so „heißen“ Themen wie „Pornografie im digitalen Bereich“ aussetzen und klar machen, dass wir Gesundheitsförderer in der Mitte der Gesellschaft sind und wissen, wo es brennt und wo Co-Produktionen viel bewirken könnten.

    Aber genauso wichtig ist auch eine valide Datenlage. Wenn ich zum Beispiel die Verkehrspolitik von Kopenhagen nehme, so muss ich als Gesundheitsförderer in der Lage sein, benennen zu können: Die Tatsache, dass eine bestimmte Anzahl x von Menschen mit dem Fahrrad zu Arbeit fährt, hat den folgenden Gesundheitsimpact y durch Rückgang an Herzinfarkten, Atemwegserkrankungen, Autounfällen und bringt ökonomisch gesehen für unsere Stadt den Betrag z.

    Das ist natürlich eine Motivation für die Gesundheitsfachleute, noch enger mit den Verkehrs- und anderen Expertinnen und Experten zusammenzuarbeiten.

    Ich glaube, diese ständige Interaktion, dieser Austausch von Daten, ist für die Co-Produktion sehr bedeutsam. Deshalb ist auch die internationale Zusammenarbeit so wichtig. Denn dort kann man immer wieder Beispiele finden und wir können dann sagen: Lasst uns das bei uns auch anwenden! Ich halte diese Art von Evidenz, die politisch eingebracht werden kann, die einen ökonomischen Faktor und einen Gesundheitsfaktor hat, für sehr wichtig.


    Die Corona-Pandemie hat ja „Gesundheit“ tatsächlich in allen Politikbereichen zu einem bedeutsamen Thema gemacht. Wird es also jetzt die Chance für „Health in All Policies“ geben?

    Es wurde immer gesagt: Das Virus macht keine Unterschiede. Aber es trifft auf eine Gesellschaft mit großen Unterschieden und es hat diese verstärkt. Es hat aufgezeigt, dass verschiedenen Determinanten der Gesundheit in den Vordergrund treten, wie sozialer Wohnungsbau oder soziale Ungleichheit. Wir haben in Amerika gesehen, dass soziale Determinanten, die bislang weniger beachtet worden sind, wie Gender und Rassismus, in den Vordergrund getreten sind.

    Was wir jetzt bei der Arbeit bei der Weltgesundheitsorganisation sehr stark betonen, ist, dass es keine Gesundheitssicherheit ohne soziale Sicherheit geben kann. Man sieht ja derzeit weltweit, dass ein Wohlfahrtsstaat und eine Wellbeing-Economy tatsächlich auch einen Unterschied machen. Es wurde plötzlich deutlich: Man kann keine Gesundheitspolitik ohne Wirtschaftspolitik machen. Und ich glaube, dass dies eine nachhaltige Erkenntnis ist.


    Das erscheint plausibel und nachvollziehbar. Aber selbst wenn die Gesundheitsförderungs-Community noch so überzeugt ist vom „Health in all Policies“-Ansatz – wenn die Akteurinnen und Akteure der anderen Politikbereiche nicht mitziehen, bringt das wenig. Was sind aus Ihrer Sicht die überzeugendsten Argumente, mit denen man zu einem gemeinsamen Vorgehen motivieren kann?

    Es geht nur mit Co-Produktionen, es geht nur, wenn man das gemeinsam angeht. Man muss sich also zusammenraufen und das kann auch tatsächlich lange dauern, wie wir es in dem eingangs genannten südaustralischen Projekt gesehen haben.

    Man muss die Evidenzen zusammensuchen, es bedeutet natürlich auch, produktiv streiten zu können, man muss Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herbeiziehen – es ist ein herausforderndes Unterfangen! Das heißt, man muss lernen, Gesundheitsdiplomatie anzuwenden, zu verhandeln, zuzuhören und auch mal dem anderen die Erfolge zuschreiben. Es ist etwas, das man bis zu einem gewissen Grad lernen kann. Bei der Weltgesundheitsorganisation haben wir Kurse und Trainingshandbücher dazu entwickelt.


    Und was können wir konkret in Deutschland tun?

    Die Bundesregierung hat vor Kurzem einen Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst verabschiedet, der die Gesundheitsämter in den nächsten Jahren auf vielen Ebenen stärken soll. Jetzt also muss die Gesundheitsförderung bereitstehen und benennen können, was Öffentliche Gesundheit heißt.


    Das heißt?

    Eben nicht nur  Gesundheitssicherheit und Epidemiologie. Und wenn Epidemiologie, dann auf jeden Fall Sozialepidemiologie, so wie sie uns Michael Marmot gelehrt hat. Politische Ökonomie gehört dazu, denn wir sehen ja gerade bei COVID-19, wie politisch öffentliche Gesundheit ist, wie sie angegriffen wird, auf welche politischen Auseinandersetzungen sie vorbereitet sein muss. Und auch hier helfen besonders Zahlen und Daten anstatt Vermutungen. Aber gleichzeitig muss man vermitteln können, was Zahlen überhaupt bedeuten – den Politikern wie auch der Bevölkerung.


    Und was empfehlen Sie für die Umsetzung?

    Ich bin überzeugt, es braucht einen Ausbildungsschub und die Beantwortung der Fragen wie: Wer soll in den Gesundheitsämtern arbeiten? Welche Art von Kompetenz benötigt das Personal? Wie beschreibt man die Aufgabe eines Gesundheitsamtes? Als eine Aufgabe, die Health in All Policies und Wellbeing auf lokaler Ebene beinhaltet? Soll das Gesundheitsamt auch eine Art Gesundheitstreff werden, wie wir es beispielsweise bei der Gesunde Städte-Bewegung ausprobiert haben? Es gibt sehr viel da draußen, es gibt viele kleine Initiativen, die gerne einen „Haken“ hätten, an dem sie sich andocken könnten.

    Gerade jetzt, wo man sozusagen durch COVID-19 die Bedeutung des Public Health in den Gesundheitsämtern neu entdeckt hat, jetzt ist es wichtig, die Gesundheitsförderungs-Stimme zu erheben und zu sagen: Erinnert euch, es gibt eine Ottawa-Charta, es gibt neue Erkenntnisse, es gibt neue Evidenzen, es gibt neue Konzepte. Und jetzt schaffen wir in Deutschland das modernste öffentliche Gesundheitswesen der Welt, das aufbaut auf einem Health in All Policies-, auf einem Wellbeing-Ansatz und einem Nachhaltigkeitsdenken.“


    Auch das „Präventionsforum“ beschäftigte sich in diesem Jahr mit Prävention und Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche und politikfeldübergreifende Herausforderungen – beispielhaft diskutiert an den Schwerpunktthemen „Pflege“ und „Psychische Gesundheit“. Wie erfolgversprechend ist es aus Ihrer Sicht, mit einzelnen Schwerpunktthemen in die Umsetzung von gesundheitsfördernden Gesamtpolitiken einzusteigen?

    Ich halte das Schwerpunktthema, das gesetzt wurde, für außerordentlich bedeutsam, auch aus der Frauenperspektive. Ein Großteil der pflegenden Kräfte ist weiblich. Sie brauchen auch zunehmend Gesundheitsförderungskompetenzen, sie sind sehr viel näher dran an vielen der sozialen Determinanten als manchmal die Medizin und sie leiden selber außerordentlich unter dem Arbeitsdruck. Viele dieser Belastungen sowohl bei dem Patienten wie bei dem Betreuenden sind im Bereich des Mental Health, der psychischen und der sozialen Gesundheit. Ich halte das für eine sehr wichtige Diskussion.

    Ich glaube aber auch, dass das Präventionsforum genutzt werden müsste, um beispielsweise eine Arbeitsgruppe einzurichten, die sich dem Thema „New Public Health“ in Deutschland annimmt. Wenn jetzt diese historische Situation gegeben ist, dass etwas, für das wir so lange gekämpft haben – bessere Ausbildung, bessere Gesundheitsämter, interdisziplinäres Robert Koch-Institut, und so weiter – wahr wird, muss man eingreifen. Trotz Präventionsgesetz ist ja vieles nicht geschafft worden. Jetzt aber gilt es, auf Bundes- und auf Länderebene Allianzen und Koalitionen für eine neuen Öffentlichen Gesundheitsdienst zu bilden.


    Die Fragen stellte Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

    Lesen Sie dazu auch:

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health In All Policies: Interview mit Dr. Katharina Böhm, Geschäftsführerin der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. (HAGE) und Mitherausgeberin des ersten deutschsprachigen Standardwerks zu Health in All Policies („Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Das Konzept Health in All Policies und seine Umsetzung in Deutschland“).

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt COVID-19: Interview mit Dr. Rüdiger Krech, Direktor für Gesundheitsförderung bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitliche Chancengleichheit: Interview mit Stefan Bräunling, Leiter der Geschäftsstelle des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit.

    Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitliche Chancengleichheit: Interview mit Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied des AWO Bundesverbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa, Vorständin Sozial- und Fachpolitik Deutscher Caritasverband, Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik Diakonie Deutschland und Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband.

    Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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    Prof. Dr. Dr. (mult.) llona Kickbusch | Gründerin und Vorsitzende des Global Health Centre am Graduate Institute in Genf. Sie ist Mitglied im Global Preparedness Monitoring Board, in der WHO High Level Independent Commission zu NCDs, Co-Chair von UHC 2030 und Council Chair des World Health Summits. Ilona Kickbusch war in deutsche Aktivitäten zu G7 und G20 eingebunden sowie in die Entwicklung der deutschen Strategie für globale Gesundheit. Sie initiierte @wgh300, eine Liste von führenden Frauen in der globalen Gesundheit. Ilona Kickbusch ist Co-Vorsitzende einer Lancet FT Kommission zu “Governing health futures 2030: growing up in a digital world.” Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.

    Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt COVID-19„Diese COVID-19-Pandemie ist ein Weckruf“

    Auch wenn die COVID-19-Pandemie auf den ersten Blick nicht als ein Kernanliegen der Gesundheitsförderung erscheinen mag, so könnte sich Gesundheitsförderung jetzt als wichtiger denn je erweisen, sagt Dr. Rüdiger Krech, Direktor für Gesundheitsförderung bei der Weltgesundheitsorganisation.

    Herr Dr. Krech, können wir schon Lehren aus der COVID-19-Pandemie ziehen?

    Diese COVID 19-Pandemie ist ein Weckruf für uns alle und möglicherweise sogar der letzte, den wir bekommen können.

    Um einer nächsten Pandemie vorzubeugen, müssen wir in Deutschland, Europa und weltweit drastische, umfängliche Veränderungen vornehmen – und zwar in der Art und Weise, wie wir unsere Gesellschaften gestalten und wie wir Gesundheit in Entscheidungen unterschiedlicher Sektoren einbeziehen.

    Wir haben jetzt gesehen: die letzten Epidemien entstanden alle durch Entscheidungen und Vorgänge außerhalb des Gesundheitssektors – angefangen bei der Vogelgrippe über die Schweinegrippe und Ebola bis hin eben jetzt zu SARS-CoV-2. Diese Epidemien hatten alle etwas damit zu tun, wie wir Urbanisierung vorantreiben, wie wir die Distanz zwischen der Tierwelt und uns Menschen immer stärker eingeschränkt haben. Das führt dazu, dass Viren vom Tier auf den Menschen überspringen.

    Darüber hinaus gibt es etliche andere Risiken auf der Welt, die zu einer Epidemie oder Pandemie führen können. Wenn wir diese nicht ursächlich in den Griff bekommen, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer nächsten Pandemie, die möglicherweise noch viel schlimmer ist, hoch.


    Kommen wir noch einmal auf die Ursachenbekämpfung zurück: Welchen Beitrag kann die Gesundheitsförderung leisten? Wird in der Folge von COVID der Health in All Policies-Ansatz gestärkt? Oder könnte es nicht vielmehr eine rollback-Bewegung geben, die gerade angesichts der Bedeutung von Infektionskrankheiten auf den medizinischen Ansatz der Prävention, z.B. Impfungen, setzt?

    Zunächst mal verweisen Sie ja ganz richtigerweise auf die Instrumente, die wir in der Gesundheitsförderung seit Ottawa, also seit fast 35 Jahren, haben, also gesundheitsfördernde Gesamtpolitiken, die wir heute vielleicht „Gesundheit in allen Politikbereichen“ oder aber auch „joined-up government“ nennen, also eine sektorübergreifende Politikgestaltung, die die Bedürfnisse der Menschen einbezieht. Ein solcher Ansatz, der von der Gesundheitsförderung entwickelt worden ist, wurde nun auch von UN-Generalsekretär Antonio Gutterres gefordert und gerade auf der UN-Generalversammlung verabschiedet.

    Unsere langjährige Erfahrung in der Gesundheitsförderung, die nun bei der Aufgabe wichtig ist, wie wir unsere Gesellschaften nach der Krise umbilden, zeigt: Es wird auch bei einer sektorübergreifenden Politikgestaltung nicht so sein, als hätten wir in solchen Verfahren oder mit mehr Bürgerbeteiligung keine Interessenskonflikte mehr. Aber die Entscheidungsträger wissen genauer, auf was sie sich einlassen, was die möglichen Konsequenzen ihres Handelns sind; wie man Kompromisse schließen und wertgeleitete „trade-offs“ herbeiführen kann – und das ist so, wie wir in der Gesundheitsförderung seit 35 Jahren mit unseren Partnern arbeiten und zusammen lernen.

    Nehmen wir das Beispiel der Eingrenzung und Bekämpfung des Ebola-Virus. Da haben wir festgestellt, dass ohne Bürgerbeteiligung die Akzeptanz von Gesundheitsfachkräften von außen extrem gering war. Also haben wir dort mit den Gesundheitshelfern vor Ort wirklich „klassisches“ Sozialengagement angewendet – und das hat dann dazu geführt, dass die Akzeptanz größer wurde, dass eben zum Beispiel Quarantäne-Maßnahmen umgesetzt werden konnten.

    Die Gefahr einer „Rückwärtsrolle“ sehe ich nicht. Denn wir erkennen ja jetzt: Es dauert, ehe ein Impfstoff für die Welt entwickelt und zugänglich gemacht werden kann. Wir sehen gerade, das geht alles nicht im Handumdrehen. Die Entwicklung von Impfstoffen ist eine unglaublich komplizierte Angelegenheit. Die Weltgemeinschaft lernt gerade, dass dieses Virus ohne Einbeziehung der Menschen in die Bekämpfung, ohne gemeindeorientiertes Handeln, ohne Akteursanalysen, ohne Gesundheitskompetenz, also ohne die klassischen Gesundheitsförderungs-Instrumente, nicht einzudämmen ist.


    Das sind ja dann auch die Instrumente, die auch in Deutschland anzuwenden wären und greifen müssten…

    Ja, genau. Wenn wir uns jetzt anschauen, wie Deutschland nach der Krise aussehen könnte, dann ist es nicht nur wichtig, dass wir Gesundheit sehr viel stärker in den Blick nehmen und Risiken bewerten, die durch ein globalisiertes Handeln in Deutschland auch für mögliche Pandemien existieren, sondern auch genauer darauf achten, wie wir unsere Städte, unser Zusammenleben oder unsere Mobilität gestalten.

    Wir sehen auch noch etwas anderes: Wenn wir auf den Planeten besser achten, hat das auch immense positive Auswirkungen auf die Gestaltung unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens.


    In welcher Rolle sehen Sie denn dann die Gesundheitsförderer? Sind sie die Treiber dieser gesellschaftlichen Veränderungen?

    Es sind ganz konkrete Funktionen, die die Gesundheitsförderung nicht nur in der Pandemie ausübt und auch für die Politikgestaltung hat. Epidemiologen stellen die Daten zur Verfügung und bereiten Quarantänemaßnahmen vor, aber beispielsweise die Akzeptanz dafür herzustellen oder die unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen, das sind Aufgaben der Gesundheitsförderung.

    Nehmen wir mal die widerstreitenden Vorschläge, die Wirtschaft schnell wieder in Gang zu bringen, oder auch die Mobilität, insbesondere den Flugverkehr, wieder schnell hochzufahren und das mit den möglichen Risiken für eine zweite und dritte COVID-19-Welle abzuwägen. Diese Interessen zusammenzubringen, zu kommunizieren, mit unterschiedlichen Interessensgruppierungen zu interagieren, das sind alles Rollen der Gesundheitsförderung, für die sie geeignete Instrumente entwickelt hat.

    Gesundheitskompetenz gehört auch dazu, also dass Menschen gesundheitliche Risiken richtig einzuschätzen wissen und eigenverantwortlich handeln können. Das ist in Deutschland ja bisher mit Hilfe der großen Mehrheit der Bevölkerung herausragend gelungen. Natürlich gibt’s „Ausreißer“, aber wenn ich das mit vielen anderen Ländern vergleiche, haben in Deutschland die Menschen bis jetzt dazu beigetragen, viele Menschenleben zu retten. Das ist ein riesiger Erfolg – für das ganze Land, für dessen Zusammenhalt und die Gesundheit in Deutschland. Ob dies auch so bleibt, wird wieder davon abhängen, ob die Entscheidungsträger die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in ihre Entscheidungen einbeziehen, ob diese Entscheidungen für die Menschen nachvollziehbar sind und ihnen angemessen erscheinen. Um das zu erreichen, brauchen sie wiederum die Instrumente der Gesundheitsförderung.


    Die Akteurinnen und Akteure der Gesundheitsförderung leisten also bereits einen spezifischen Beitrag zur Bewältigung der Krise….

    Ja genau, das kann man für eine Phase danach in Deutschland, Europa und global wertschätzen: Wir können diesen Instrumentenkasten der Gesundheitsförderung für das Design unserer Gesellschaften nochmals neu anbieten.


    Und dieser Instrumentenkasten umfasst, was wir schon aus der Ottawa Charta kennen?

    Exakt, wir müssen das jetzt natürlich übertragen, und zwar nicht nur sprachlich von der Ausdrucksweise der 80er Jahre auf heute, sondern vor allem im Hinblick auf die gewaltigen Umwandlungsprozesse, in denen wir uns im Moment schon befinden und die noch auf uns zukommen.


    A propos Transitionsprozesse: Die Digitalisierung gehört untrennbar dazu bzw. löst diese aus und verstärkt sie. Welche Auswirkungen hat das denn auf die Gesundheitsförderung?

    Wenn man sich anschaut, wie Zukunftsforscher und Makroökonomen Veränderungsprozesse deuten, dann sagen viele, dass ein Innovationszyklus, also der Zeitraum, um eine gesamte neue Technologie zu entwickeln, in den 90er Jahren noch 20 Jahre betrug, derzeit fünf und demnächst nur drei Jahre. Wir leben in einer immer schneller werdenden Zeit des technischen Wandels. Insofern werden wir zukünftig viele Veränderungen erleben, die unser Alltagsleben vollständig verändern.

    Denken Sie nur mal, wie unser Alltagsleben vor dem Smartphone aussah – und das sind gerade etwas über zehn Jahre her. Versetzen wir uns jetzt mal in die Zukunft, 20 Jahre weiter. Was heißt das für uns, wenn die Innovationszyklen immer schneller werden? Dann brauchen wir eine erhöhte Adaptationsfähigkeit, so dass wir uns mit gutem Mut auf diesen Wandel einlassen können.

    Aber bedenken wir auch: Nicht jeder Wandel ist auch gesundheitsförderlich. Die Frage ist: Wie bringen wir da Gesundheit mit hinein? Welchen Wandel lassen wir zu? Welchen sollten wir besser nicht zulassen? Das ist aus unserer Sicht derjenige, der uns nicht mehr Gesundheit und Wohlbefinden ermöglicht und nicht mit dem Wohl und den Heilungschancen unseres Planeten im Einklang ist.

    Das heißt für unseren Instrumentenkasten, dass wir ihn anpassen müssen. Wir brauchen zum Beispiel bessere Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen, und zwar nicht nur welche, bei denen wir ex post Effekte nachvollziehen, sondern Verträglichkeitsprüfungen, die die möglichen gesundheitlichen Effekte für solche Technologien begutachten oder bewerten, die technisch möglich wären oder jetzt im Moment in der Entwicklung sind.

    Dann braucht es dafür natürlich auch stärkere Mechanismen der Regierungsführung, die gesundheitsförderliche Entwicklungen befürworten.


    Was erneut bedeutet, die gesündere Wahl zur leichteren Wahl zu machen…

    Ja, ganz genau, darauf kommen wir immer wieder zurück. Das ist so aktuell wie nie zuvor.


    D.h. Instrumentenkasten an Transformationsprozesse anpassen, ohne dass wir unsere Werte und das humanistische Ideal oder besser: Erbe aufgeben?

    Ja, auch da wieder, so wie zuvor: Wir sind wirklich an einem Scheideweg. Wenn wir es nicht schaffen, Chancengleichheit herzustellen, wenn immer mehr Menschen aus diesen Transitionsprozessen herausfallen, nicht teilhaben können und wir nicht die Solidarität in unseren Gesellschaften stärken, dann werden immer mehr Menschen extreme Verhaltensweisen zeigen.

    Das beobachten wir ja im Moment in solchen Ländern, die eben nicht auf Chancengleichheit setzen. Eine solche Gesundheitskrise wie COVID-19 ist ein Lackmustest, der zeigt, wo Schwächen in den Gesellschaften sind. Wenn Sie sich die Infiziertenzahlen angucken, ist das die Rechnung, die man dafür bekommt. Das zeigt auch wieder, dass Menschenrechte, Chancengleichheit, universeller Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen und Bildung und Förderung von Gendergleichheit entscheidend sind.

    Das sind keine abstrakten politischen Forderungen, sondern diese Werte müssen Eckpfeiler eben dieses Handelns sein. Wenn man Politik nicht auf diesen Pfeilern aufbaut, sieht man nun allzu deutlich, welche Auswirkungen es hat.

    Insofern ist Gesundheit „Seismograph für Entwicklung“ und so wichtig wie nie zuvor. Das hat Deutschland sehr, sehr gut verstanden – und nicht nur in der Krise.

    Schauen Sie sich an, welches Land das Thema „Gesundheit“ in die G7- und G20-Agenden aufgenommen hat und wie das bei den Vereinten Nationen gelaufen ist. Da kommt Deutschland eine Führungsposition zu. Dem haben sich zum Glück viele andere Länder angeschlossen, um Globalisierung auf diesem Wertekanon, den wir gerade angesprochen haben, aufzubauen. Das ist doch der Weg, den Deutsche und Europäer weiter gehen sollten.


    Die Fragen stellte Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

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    Dr. Rüdiger Krech | Seit 2019 Abteilungsleiter für Gesundheitsförderung bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf. Dr. Krech leitet die Arbeit der WHO zu Risikofaktoren wie Tabakkonsum und schädlichen Konsum von Alkohol und verantwortet die Arbeit zu gesundheitsförderlichen Settings sowie Programme zu mehr Bewegung. Zuvor Direktor für Gesundheitssysteme und allgemeine Gesundheitsversorgung (Universal Health Coverage) und Direktor für Soziale Determinanten von Gesundheit und Chancengleichheit bei der WHO; Erziehungs- und Gesundheitswissenschaftler.