Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: ArbeitsweltAnforderungen an Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt

Wie kann Arbeit gesundheitsförderlich gestaltet werden? Über Chancen und Herausforderungen aus Sicht von Arbeitgebern und Mitarbeitenden sprechen Expertinnen und Experten des Präventionsforums 2023 „Anforderungen an Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt von morgen“.

Wie Prävention und Gesundheitsförderung dazu beitragen können, die Arbeitswelt menschengerecht, barrierefrei und klimasensibel zu gestalten, erläutern Dr. Stefanie Bühn, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG); Prof. Dr. Monika Eigenstetter, Hochschule Niederrhein; Dr. Janice Hegewald, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und Prof. Dr. Reinhard Burtscher, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).

Wie kann eine wirksame und nachhaltige Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt erreicht werden? Die Rolle der Arbeitgeber:

Dr. Stefanie Bühn, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit: Arbeitsgeberinnen und Arbeitgeber stehen vor großen Herausforderungen: neben ihrem Tagesgeschäft sollen sie sich an die aktuellen und zukünftigen klimawandelbedingten Gesundheitsrisiken anpassen (Adaptation), Klimaneutralität und Umweltfreundlichkeit vorantreiben (Mitigation) und – wo möglich – die gesellschaftliche Transformation sozial gerecht mitgestalten. Zur Identifikation und Umsetzung guter Lösungs- und Gestaltungsmöglichkeiten im Klimawandel ist die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure für Arbeits- und Gesundheitsschutz wichtig. Kurz- und mittelfristig können Anreize und Hilfestellungen insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) unterstützen wie eine Sammlung guter Praxisbeispiele zu wirksam umgesetzten Klimaschutz und -anpassungen.

Dringender Handlungsbedarf besteht aktuell beim Thema Hitzeschutz: hier müssen Schutzkonzepte insbesondere für vulnerable Beschäftigtengruppen in allen Branchen, aber vor allem dort, wo draußen gearbeitet wird, wirksam umgesetzt werden. Eine klimasensible Führungskultur und Organisationsentwicklung können langfristig zu resilienteren Unternehmen und gesünderen Beschäftigten führen, denn viele Klimaschutzmaßnahmen haben positive Effekte für die Gesundheit, auch Mehrgewinne oder Co-Benefits genannt. So können zum Beispiel Fehlzeiten reduziert werden. Die Verbindung von Nachhaltigkeit und klimasensibler Gesundheitsförderung kann weitere Vorteile haben: beispielsweise können Kennzahlen zur Gesundheitsberichterstattung aus dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) in die Nachhaltigkeitsberichterstattung einfließen.

Damit gesundheitsförderliches und klimaschützendes Verhalten möglich ist, müssen innerbetrieblich die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden wie zum Beispiel durch gesunde und nachhaltige Ernährungs- und Fortbewegungsangebote. Eine auch von Führungskräften aktiv gelebte Präventionskultur, die die Krisen unserer Zeit adäquat adressiert, kann in Zeiten des Fachkräftemangels die Arbeitgeberattraktivität steigern.

Prof. Dr. Monika Eigenstetter, Hochschule Niederrhein: Zunehmende Wichtigkeit erhält im Arbeitskontext das Thema der „Psychischen Belastungen und Beanspruchungen“. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind verpflichtet, in Gefährdungsanalysen psychische Gefährdungen zu integrieren, gleichwertig zu Gefährdungen durch physikalische Einwirkungen, Chemikalien, schwere Lasten oder ähnliches. Bei psychischen Gefährdungen müssen Mitarbeitende einbezogen werden, da nur sie beurteilen können, ob beispielsweise eine Arbeit in der vorgegebenen Zeit stressfrei zu bewältigen ist, oder welche Belastungen durch Kunden und vorhandene Arbeitsprozesse auftreten.

Für einen ersten Einblick in das Vorgehen einer psychischen Gefährdungsanalyse bietet sich der Erklärfilm der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie, Arbeitsprogramm Psyche, an. Der Aufbau eines betrieblichen Gesundheitsmanagements ist auf jeden Fall sinnvoll. Am Beispiel der Digitalisierung wird schnell klar, wie wichtig Analysen und darauf basierende Arbeitsgestaltungsmaßnahmen sind. Manchmal bringt eine Technologie zwar Erleichterungen in den Arbeitsprozess, gleichzeitig vermindern sich möglicherweise Handlungsspielraum und wünschenswerte Flexibilität. Daher ist es wichtig, dass die Mitarbeitenden bei der Auswahl und Einführung der Technologien immer beteiligt werden. Ein weiteres aktuelles Thema ist mobile Arbeit, die man genauer betrachten sollte, denn sie bringt Gefährdungen durch Entgrenzung der Arbeit.

Dr. Janice Hegewald, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Um eine wirksame und nachhaltige Prävention und Gesundheitsförderung zu erreichen, müssen sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber für eine betriebliche Gesundheitskultur einsetzen. Anzustreben sind verhältnisorientierte Maßnahmen, die für gesunde betriebliche Rahmenbedingungen sorgen und auf der Organisationsebene ansetzen. Solche Maßnahmen sollen gemeinsam mit den Betriebsärztinnen und -ärzten, den Akteuren des betrieblichen Gesundheitsmanagements und vor allem partizipativ mit den Beschäftigten geplant und umgesetzt werden.

Eine menschengerechte Gestaltung der beruflichen Anforderung und gesundheitsförderliche Organisation der Arbeit sorgen dafür, dass gesundheitsgefährdende Bedingungen minimiert werden. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, die mit der Arbeit verbundenen Gefährdung der Beschäftigten im Rahmen der Gefährdungsermittlung zu beurteilen und die erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen zu ergreifen.

Liegen beispielsweise Gefährdungen durch körperliche Tätigkeiten wie das Heben und Tragen schwerer Lasten vor, werden diese Gefährdungen oft mit den Leitmerkmalmethoden (LMM) ermittelt und beurteilt. Daraus ergeben sich wertvolle Anhaltspunkte für Maßnahmen der Arbeitsgestaltung und Präventionsmaßnahmen, um arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen zu vermeiden. Dazu gehört unter anderem auch das Angebot der betriebsärztlichen Beratung der Beschäftigten im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Zusätzlich können niedrigschwellige Angebote, wie ein gesundes Essensangebot am Arbeitsplatz, sich positiv auf die Gesundheit aller Beschäftigten auswirken.

So kann eine verhaltensorientierte betriebliche Gesundheitsförderung, die auf das Gesundheitsverhalten von Individuen abzielt, Gesundheitskompetenzen vermitteln oder auf die Gesundheitsbedürfnisse einzelner Gruppen eingehen. Leider erreicht sie nicht immer diejenigen, die am meisten davon profitieren könnten – daher ist eine regelmäßige Überprüfung der Maßnahmen ist wichtig, um die Ziele zu reflektieren und die Maßnahmen anzupassen.

Prof. Dr. Reinhard Burtscher, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin: In Zeiten von Fachkräftemangel sollten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verstärkt daran interessiert sein, dass ihre Beschäftigten gesund sind und bleiben. Wie gelingt gesundes Arbeiten? Zunächst müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Maßnahmen ermöglichen und fest in die Unternehmenskultur verankert werden können.

Die Arbeitswelt ist von Barrieren durchzogen: bauliche Barrieren, kommunikative Barrieren, digitale Barrieren, soziale Barrieren und so weiter. Diese Barrieren abzubauen, ist ein Teil einer wirksamen und nachhaltigen Gesundheitsförderung. Bauliche Hindernisse zu identifizieren und anzupassen, erscheint einfach. Aber wenn es um Einstellungen und Haltungen als soziale Barrieren in Unternehmen geht, dann sind Informations- und Aufklärungsworkshops nur ein erster Schritt hin zu einer gesundheitsförderlichen Unternehmenskultur.

Verschiedenheiten ernst zu nehmen und darüber respektvoll zu sprechen, ist wichtig. Deshalb betrifft inklusives Arbeiten nicht nur behinderte Menschen, sondern adressiert darüber hinaus Personengruppen wie beispielsweise ältere Beschäftigte, Frauen und Männer mit Vereinbarkeitsproblemen oder Menschen mit Sprachschwierigkeiten aufgrund ihrer Herkunft. Letztlich begünstigt das Eingehen auf unterschiedliche Bedarfe die Motivation und Leistungsbereitschaft bei den Beschäftigten. Gleichzeitig können Fehlzeiten oder eine Mitarbeiterfluktuation verringert werden.


Wie kann eine wirksame und nachhaltige Prävention und Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt erreicht werden? – Die Rolle der Mitarbeitenden:

Dr. Stefanie Bühn, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in ihrem Arbeitsumfeld klimabedingten Gesundheitsgefahren teilweise länger und stärker ausgesetzt als die übrige Bevölkerung, da einige Tätigkeiten trotz der Klimaveränderungen beispielsweise auch bei Extremwetterlagen geleistet werden müssen. Besonders gefährdet sind Menschen, die körperlich anstrengende Arbeit und/oder Arbeit im Freien verrichten und dort vor allem jene, die weitere Vulnerabilitäten wie eine chronische Erkrankung mitbringen.

Studien zeigen, dass besonders betroffene Gruppen die reale Gefährdung, die beispielsweise mit extremer Hitze einhergeht, unterschätzen. Sie brauchen zielgruppenspezifische Informationen über die Zusammenhänge von Klimawandel und Gesundheit und zu kontextspezifischen Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung. Gute Klimagesundheitskommunikation am Arbeitsplatz kann die Akzeptanz von Maßnahmen für Klimaschutz und -anpassung, im Sinne einer gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung, fördern. Auch Instrumente wie Betriebsvereinbarungen oder Unterweisungen können Klarheit und Sicherheit im Umgang mit Klimawandelrisiken bieten.

Gesundheitsfördernde und präventive Maßnahmen sollten mit den Beschäftigten partizipatorisch erarbeitet werden, denn sie können mit Zielkonflikten einhergehen: So kann beispielsweise die Verschiebung der Arbeitszeiten bei Hitze zu einer schlechteren Vereinbarkeit von Beruf und Familie führen. Neben dem Wissen, welche Co-Benefits sich durch klimafreundliches Verhalten für die Gesundheit ergeben können, geht es auch darum, die geeigneten Anreize und betrieblichen Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz aktiv anzuregen, wie eine klimafreundliche, pflanzenbasierte Gemeinschaftsverpflegung oder die Förderung der Nutzung eines Jobrads. Viele Arbeitnehmende sind bereits motiviert – durch die arbeitgeberseitige Förderung von klimaschützendem Engagement können sie sich als selbstwirksam und handlungskompetent erleben, was wiederum ihre mentale Gesundheit und Resilienz fördern kann.

Prof. Dr. Monika Eigenstetter, Hochschule Niederrhein: Bei den Gefährdungsbeurteilungen der psychischen Belastungen sollten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aktiv mitgestalten. Wichtig ist, dass die Maßnahmen gemeinsam entwickelt, damit sie implementiert werden. Aber auch für die eigene Resilienz kann viel getan werden: Dazu zählen gesundes Essen mit viel Gemüse, ausreichend Schlaf, Sport und Entspannungsübungen. All das unterstützt die Regeneration von Körper und Psyche, denn ein gesunder Geist braucht einen gesunden Körper!

Kleine Auszeiten sind im Alltag möglich, selbst wenn es nur 10-minütige Atemübungen sind. Gesundes Essen kann man sich an den Arbeitsplatz mitbringen. Und man kann öfter mal das Auto stehen lassen und das Fahrrad nehmen: das bringt körperliche Bewegung. Und natürlich kann auch „Digital Detox“ für den einen oder die andere erleichternd wirken.

Dr. Janice Hegewald, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Bei der gesundheitsförderlichen Gestaltung der Arbeit und der Entwicklung von Präventionsprogrammen werden Nachhaltigkeit und Wirksamkeit am ehesten erzielt, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aktiv beteiligt werden und sind. Die Bedürfnisse und Präferenzen der Beschäftigten sollten so weit wie möglich berücksichtigt werden. Ohne die Akzeptanz der Beschäftigten werden nachhaltige Veränderungen nicht erreicht oder nicht adäquat umgesetzt. Die Beschäftigten sollten daher befähigt und ermutigt werden, ihre gesundheitlichen Bedürfnisse gegenüber dem Unternehmen zu kommunizieren.

Die effektive Gestaltung einer betrieblichen Gesundheitskultur erfordert darüber hinaus eine grundlegende Gesundheitskompetenz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Bereitschaft, diese weiterzuentwickeln. So sind Beschäftigte besser in der Lage zu erkennen, wie sich die eigene Arbeit – positiv oder negativ – auf die eigene Gesundheit auswirkt. Gesundheitskompetenz und ein Grundwissen über die gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Gesundheit bei der Arbeit sind notwendige Fähigkeiten, um die betriebliche Gesundheitskultur auch von der Basis her aufzubauen – sie sind für die Sicherheit im Betrieb unabdingbar.

Prof. Dr. Reinhard Burtscher, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin: Inklusive Arbeit wird wesentlich von äußeren Faktoren beeinflusst. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind dafür verantwortlich, dass passende Rahmenbedingungen und Strukturen im Betrieb vorhanden sind. Man spricht hier von Verhältnisprävention, die Gesundheit fördert und absichert. Eine gesunde Arbeitswelt zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen wohl fühlen können. Auf das Individuum bezogen, geht es um ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Anforderungen und Bewältigungsmöglichkeiten.

Wirksame und nachhaltige Gesundheitsförderung zielt deshalb auch auf Verhaltensprävention. Jeder und jede Mitarbeiterin und Mitarbeiter kann selbst Verantwortung übernehmen, um eine gesunde Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Diese Eigenverantwortung beginnt bei der Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und endet bei der Aufmerksamkeit für Kolleginnen und Kollegen. Zu den häufig genannten Belastungen zählen beispielsweise eine hohe Arbeitsverdichtung, Optimierungsdruck, Informationsflut, digitaler Stress oder Anforderungen an Erreichbarkeit und Flexibilität.

Wenn eine gesundheitliche Gefährdung droht, dann ist eine Überlastungsanzeige bei der Arbeitgeberin oder beim Arbeitgeber sinnvoll. Diese Meldung ist gesetzlich nicht festgelegt, kann jedoch helfen, Gegenmaßnahmen anzuregen. Letztlich ist aber die Rolle als eigenverantwortliche Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer nur wechselseitig mit der Verantwortung der Unternehmensleitung für die Mitarbeitenden zu betrachten.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

BVPG-Interview mit Prof. Dr. Mathilde Niehaus, Professur für Arbeit und berufliche Rehabilitation an der Universität zu Köln und Keynote Speakerin des Präventionsforums 2023: „Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt: mehr Forschung und Partizipation!”

BVPG-Interview mit Dr. Elke Ahlers, Leiterin des Referats „Qualität der Arbeit” der Hans-Böckler-Stiftung und Referentin auf dem Präventionsforum 2023: „Betriebliche Gesundheitsförderung muss auch bei den Ursachen für Belastungen ansetzen.”

Weitere Informationen zum Präventionsforum erhalten Sie hier.

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Dr. Stefanie Bühn | Gesundheitswissenschaftlerin; seit 2022 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG) im Handlungsfeld Planetary Health in der Arbeitswelt. Aktuelle Projekte: „Klima wandelt Arbeit“ im BMAS-Programm Arbeit: Sicher und Gesund (ASUG), in dem gemeinsam mit Akteur:innen der Arbeitswelt Lösungsansätze für ein sicheres, gesundes und menschengerechtes Arbeiten im Klimawandel entwickelt werden sollen. Gemeinsam mit Maike Voss, geschäftsführende Direktorin des Centre for Planetary Health Policy (CPHP), hat sie 2023 ein Gutachten „Klimawandel und Gesundheit – Auswirkungen auf die Arbeitswelt“ erstellt.

Prof. Dr. Monika Eigenstetter | Seit 2009 an der Hochschule Niederrhein als Professorin tätig, seit 2019 für Arbeitspsychologie und CSR Management am Fachbereich Textil- und Bekleidungstechnik. 2007 promovierte sie mit einem Thema zum verantwortungsvollen Entscheiden und Handeln an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo sie seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Arbeitsschwerpunkte: Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, Human Resources sowie Unternehmensethik und soziale Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility). 2013 gründete sie mit zwei Kollegen das EthNa Kompetenzzentrum CSR, das Fragestellungen der Unternehmensethik und der Nachhaltigkeit vorrangig in der textilen Kette bearbeitet. Seit 2016 leitet sie das Forschungsinstitut A.U.G.E. (Arbeitssicherheit, Umweltschutz, Gesundheitsförderung und Ethik).

Dr. Janice Hegewald | Epidemiologin; Leiterin der Fachgruppe 3.1 „Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Co-Sprecherin des Arbeitskreises „Epidemiologie in der Arbeitswelt“ der Fachgesellschaften DGAUM, DGEpi, DGSMP und GMDS. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsepidemiologie Forschung zur Ätiologie und Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen und kardiometabolischen Erkrankungen.

Prof. Dr. Reinhard Burtscher | Seit 2003 Professor für Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB); Vizepräsident für Forschung, Transfer und Weiterbildung; Mitglied im Institut für Soziale Gesundheit. Arbeitsschwerpunkte: Inklusives Arbeiten und berufliche Integration; Betriebliche Gesundheitsförderung; Gesundheitsbildung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, Teilhabeforschung.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: GesundheitskompetenzGesundheitskompetenz im Kontext von „Behavioural and Cultural Insights“

Anlässlich der BVPG-Statuskonferenz „Gesundheitskompetenz fördern – Lebensqualität erhalten und verbessern“ sprechen wir mit Dr. Susanne Jordan und Prof. Dr. Julika Loss, beide Robert Koch-Institut (RKI), über Gesundheitskompetenz und den Ansatz „Behavioural and Cultural Insights (BCI)“ und darüber, wie sie für Prävention genutzt werden können.

Was ist eigentlich unter „Behavioural and Cultural Insights“ zu verstehen und was unterscheidet diesen Ansatz von der Gesundheitskompetenz?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) übersetzt den englischen Begriff „Behavioural and Cultural Insights“ wörtlich mit „verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse“. International und auch im deutschen Sprachraum wird das häufig mit BCI abgekürzt. Mit „Behavioural and Cultural Insights“ sind Erkenntnisse gemeint, die auf empirischer Evidenz aus ganz unterschiedlichen Disziplinen beruhen und erklären, wie Menschen in ihrem Alltag gesundheitsrelevante Entscheidung treffen, und was ihr Gesundheitsverhalten beeinflusst. BCI nutzt Forschung aus Wissenschaftsdisziplinen wie Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Ökonomie, Kommunikations-, Sport-, Ernährungs- oder Politikwissenschaften.

Der Ansatz „Behavioural and Cultural Insights“ dient der Entwicklung von gesundheitspolitischen Strategien und der Gesundheitskommunikation, wird aber auch bei der Planung von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung eingesetzt. Durch die Identifizierung von sowohl kontextuellen als auch individuellen Barrieren bzw. fördernden Faktoren sollen möglichst passgenaue und effektive Interventionen entwickelt werden. Daher wird auch die Einbindung der Zielgruppe in die Entwicklung von Maßnahmen so weit wie möglich angestrebt.

Bei „Gesundheitskompetenz“ handelt es sich hingegen um ein Konzept, das den Umgang mit Gesundheitsinformationen als Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen beschreibt. Im Englischen wird der Begriff „Health Literacy“ verwendet, der teilweise auch im deutschsprachigen Raum gebräuchlich ist. Gesundheitskompetenz ist ein multidimensionales Konstrukt, das kognitive, psychische, soziale und kontextuelle Aspekte umfasst. Gesundheitskompetenz ist kontextabhängig und wird daher als relationales Konzept bezeichnet.

Um Gesundheitskompetenz zu fördern, sollten Maßnahmen sowohl bei den individuellen Ressourcen, Fähigkeiten und Kenntnissen als auch bei den organisatorischen Strukturen ansetzen. Die Förderung von Gesundheitskompetenz soll auch zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens beitragen, wobei Maßnahmen der Gesundheitsförderung eingesetzt werden können. Gesundheitskompetenz gilt laut der Weltgesundheitsorganisation als wichtige Determinante von Gesundheit.

Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht darin, dass es sich bei Gesundheitskompetenz um ein konkretes theoretisches Konstrukt handelt, bei dem das Thema „Umgang mit Gesundheitsinformationen“ im Vordergrund steht. Das methodische Vorgehen zur Erfassung und Förderung von Gesundheitskompetenz ist nicht Teil des Konstruktes Gesundheitskompetenz. Anders verhält es sich bei „Behavioural and Cultural Insights“. Bei BCI wird die interdisziplinäre Perspektive ausdrücklich als zentral für den Ansatz betrachtet, sie steht bereits im Namen des Ansatzes – und damit geht auch Methodenvielfalt einher. Zwar lässt sich auch bei den vorhandenen Studien zur Gesundheitskompetenz eine Methodenvielfalt beobachten, allerdings ist der Anteil an quantitativen Studienmethoden größer als der von qualitativen Studien. Begleitet ist die Gesundheitskompetenzforschung ohnehin von einer wissenschaftlichen Diskussion, wie Gesundheitskompetenz am besten gemessen werden sollte.


Können Sie noch weitere Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten von Gesundheitskompetenz und „Behavioural and Cultural Insights“ benennen?

Eine Gemeinsamkeit beider Ansätze ist die Adressierung gesundheitsrelevanter Entscheidungen, die bewusst oder unbewusst getroffen werden, wobei die unbewussten Entscheidungen, zum Beispiel impulsive oder emotionale Entscheidungen, besonders im BCI-Ansatz verfolgt werden. Der thematische Fokus von „Behavioural and Cultural Insights“ ist im Vergleich zur Gesundheitskompetenz wesentlich breiter. BCI beschäftigt sich mit ganz unterschiedlichen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, während die Gesundheitskompetenzforschung in der Regel auf den Umgang mit Gesundheitsinformationen fokussiert.

Obwohl sowohl Gesundheitskompetenz als auch BCI den Kontext bzw. die Verhältnisse als relevant für Maßnahmen benennen, geraten diese mitunter aus dem Blick, und Interventionen werden vorrangig auf das Individuum ausgerichtet. An sich beinhalten beide Ansätze Kontextfaktoren bzw. Bedingungen vor Ort schon in ihrer Definition: Gesundheitskompetenz ist als ein relationales Konzept definiert, das kontextabhängig ist, weshalb sich die Forschung zur Gesundheitskompetenz zunehmend mit der organisationalen Gesundheitskompetenz beschäftigt. Diese adressiert organisatorische Strukturen und die Vermittlung von Gesundheitskompetenz in Einrichtungen des Gesundheitswesens, aber auch in den Lebenswelten, zum Beispiel Schulen. Und auch der BCI-Ansatz trägt das „Kulturelle“ im Begriff, als Hinweis darauf, dass gesellschaftliche und Kontextbedingungen vor Ort zu berücksichtigen sind, um Evidenz zu generieren bzw. wirksame Interventionen zu entwickeln. Bei beiden Ansätzen ist es wichtig, sich bei der Analyse und der Maßnahmenentwicklung nicht nur auf die individuellen Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu konzentrieren, sondern auch die Verhältnisse und Kontextbedingungen bis hin zu den Determinanten von Gesundheit („causes of the causes“) einzubeziehen.


Welches Potenzial sehen Sie für die Förderung von Gesundheitskompetenz durch „Behavioural and Cultural Insights“?

Durch „Behavioural and Cultural Insights“ sollen Maßnahmen und Interventionen wirksamer und passgenauer gestaltet werden, und Gesundheitskompetenz ist dabei ein bedeutsamer zu berücksichtigender Faktor. BCI hat so das Potenzial, Gesundheitskompetenz in umfassende Studien zu Prävention- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen zu integrieren. Die Förderung von Gesundheitskompetenz kann damit zu wirksameren Maßnahmen in der Prävention und Gesundheitsförderung beitragen.

Die WHO weist in ihren Papieren zu „Behavioural and Cultural Insights“ ausdrücklich auf Gesundheitskompetenz hin. In der Gesundheitskompetenz sieht sie einen nachweislich einflussreichen Faktor auf gesundheitsbezogene Verhaltensweisen, der deshalb bei Maßnahmen, die auf soziale und verhaltensbezogene Veränderungen abzielen, berücksichtigt werden sollte.


Wie sieht das konkret aus?

Um Evidenz für eine Maßnahmenentwicklung im Kontext von BCI zu gewinnen, schlägt die Weltgesundheitsorganisation vor, sich an dem sogenannten COM-B-Modell zu orientieren. Dieses wurde von Susan Michie und ihrem Team am University College London entwickelt und ist bereits vielfach erprobt. Das aus dem Englischen stammende Akronym COM-B setzt sich aus den vier Anfangsbuchstaben der zu untersuchenden Bereiche zusammen. Dabei steht das „B“ für „Behaviour“, das zu untersuchende Verhalten, das von drei Bereichen beeinflusst wird, „C“ für „Capability“, die Fähigkeiten, „O“ für „Opportunity“, die Möglichkeiten und „M“ für „Motivation“, die Motivation. Dahinter steht die Annahme, dass verschiedene kognitive und körperliche Fähigkeiten ein Verhalten ebenso beeinflussen wie die Möglichkeiten, die sich aus dem sozialen Kontext und der physischen Umgebung ergeben, sowie auch der bewussten und unbewussten Motivation.

Im COM-B-Modell ist Gesundheitskompetenz demnach ein Aspekt aus dem Bereich der Fähigkeiten, nämlich die Fähigkeit, mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Die Analyse und Förderung von Gesundheitskompetenz können dann beispielsweise Verhaltensweisen wie gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung unterstützen, aber auch die Inanspruchnahme bestimmter Leistungen im Gesundheitswesen. Die Zuordnung zum Bereich „Fähigkeiten“ ist aber nicht so eindeutig, denn wenn die aktuellen umfassenden Definitionen von Gesundheitskompetenz herangezogen werden, dann beinhaltet Gesundheitskompetenz auch den motivationalen Aspekt, ein Bereich, der im COM-B-Modell einen weiteren eigenständigen Faktor darstellt. Diese Überschneidung sollte in den Analysen entsprechend berücksichtigt werden und nicht nur auf die Fähigkeiten fokussiert werden.

Des Weiteren ist zu überlegen, inwiefern die multidisziplinären Perspektiven und Methoden von „Behavioural and Cultural Insights“ bei der Entwicklung und der Überprüfung von konkreten Maßnahmen zur Förderung von Gesundheitskompetenz hilfreich sein können. BCI-Studien könnten gezielt Barrieren und Förderfaktoren eines gesundheitskompetenten Verhaltens einer bestimmten Gruppe untersuchen und dazu beitragen, gesundheitskompetenzförderndes Verhalten besser zu verstehen.


Was ist Ihrer Einschätzung nach zu tun, um Gesundheitskompetenz in Deutschland zu stärken? Wie kann der Ansatz „Behavioural and Cultural Insights“ dazu einen Beitrag leisten, auch im Hinblick auf die Erreichbarkeit sozial benachteiligter Gruppen?

Um Gesundheitskompetenz in Deutschland zu stärken, sollte in ganz vielen gesellschaftlichen Bereichen angesetzt werden. Diese sind ausführlich im „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ (NAP) beschrieben. In Bezug auf Ihre Frage ist hervorzuheben, dass es nicht nur um Maßnahmen im Gesundheitswesen geht, sondern es auch um die Förderung von Gesundheitskompetenz in den Lebenswelten gehen muss, und hier spielen Prävention und Gesundheitsförderung eine zentrale Rolle. Der „NAP“ benennt ausdrücklich als ein zentrales Umsetzungsprinzip: „soziale und gesundheitliche Ungleichheit verringern“. 

Die Herangehensweise von „Behavioural and Cultural Insights“ kann die Perspektiven der Gesundheitskompetenzforschung erweitern – gerade, weil BCI-Studien unbewusste gesundheitsrelevante Entscheidungen mit in den Blick nehmen. Denn BCI legt einen Schwerpunkt auf die aus der Prävention und Gesundheitsförderung bekannte Beobachtung, dass Menschen trotz vorhandenen Wissens ihr Verhalten nicht ändern (der sogenannte “intention-action-gap“). Dies liegt häufig an strukturellen Barrieren in der Umgebung, zum Beispiel in den Lebenswelten. Diese Barrieren sind oftmals noch nicht identifiziert oder werden noch nicht systematisch bei der Maßnahmengestaltung berücksichtigt.

Da BCI die Beteiligung von Betroffenengruppen bei der Entwicklung von Maßnahmen ausdrücklich betont, kann dies zu einer Stärkung partizipativer Methoden in der Gesundheitsförderung und Prävention führen. Die Stärkung partizipativer Methoden ist gerade im Hinblick auf die Verringerung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit eine Herangehensweise, die als vielversprechend auch im Kontext der Gesundheitskompetenzförderung gilt. Die Bevölkerung sollte dabei am besten nicht erst bei der konkreten Strategieentwicklung zur Gesundheitskompetenz, sondern von Anfang in den Gesundheitskompetenz-Studien, beteiligt werden.

Insgesamt sehen wir eine gegenseitige Ergänzung und Bereicherung von BCI und Gesundheitskompetenz mit dem Potenzial, Prävention und Gesundheitsförderung effektiver und zielgerichteter zu gestalten.

Die Fragen stellte Simone Köser, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).


Lesen Sie dazu auch:

Weitere Informationen zur BVPG-Statuskonferenz „Gesundheitskompetenz fördern – Lebensqualität erhalten und verbessern“ finden Sie hier.

BVPG-Interview mit Dr. Lennert Griese, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bielefeld mit Forschungsschwerpunkt Gesundheitskompetenz. Er ist Teil des WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL) und des Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP): „Die Gesundheitskompetenz ist ungleich in der Bevölkerung verteilt.”

BVPG-Interview mit Kristine Soerensen, Präsidentin der International Health Literacy Association and chair of Health Literacy Europe: „Health literacy champions are in demand!”

BVPG-Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann, Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin und Mit-Initiator des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz (NAP): „Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung.

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Prof. Julika Loss | Seit 2020 Leiterin des Fachgebietes „Gesundheitsverhalten“ am Robert Koch-Institut (RKI). Zuvor war sie Professorin für Medizinische Soziologie an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Einflussfaktoren z.B. für Bewegung und Ernährung sowie zu Gesundheitsförderung in Settings. Sie ist deutscher „Focal Point“ der WHO Europe für „Behavioural and Cultural Insights“.

Dr. PH Susanne Jordan | Stellvertretende Leiterin des Fachgebiets „Gesundheitsverhalten“ am Robert Koch-Institut (RKI). Forschungsschwerpunkte: Gesundheitskompetenz, Gesundheitsverhalten, Prävention und Gesundheitsförderung sowie partizipative Gesundheitsforschung. Sie ist im Vorstand des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Gesundheitskompetenz„Die Gesundheitskompetenz ist ungleich in der Bevölkerung verteilt“

Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, ist seit Gründung der Allianz für Gesundheitskompetenz 2017 ein wichtiges Thema der Prävention und Gesundheitsförderung. Über den aktuellen Stand sprechen wir mit  Dr. Lennert Griese, Universität Bielefeld und Referent der 22. BVPG-Statuskonferenz.

Herr Dr. Griese, Sie haben auf der BVPG-Statuskonferenz „Gesundheitskompetenz fördern – Lebensqualität erhalten und verbessern“ zur aktuellen Datenlage der Gesundheitskompetenz in Deutschland referiert. Wie wird Gesundheitskompetenz definiert, welche Definitionsvarianten werden in der Wissenschaft diskutiert? 

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, wenn man bedenkt, dass heute weltweit mehr als hundert Definitionen von Gesundheitskompetenz bzw. Health Literacy – so wird das Konzept außerhalb Deutschlands bezeichnet – vorliegen. 

Dennoch hat sich in Europa und speziell auch in Deutschland in den letzten zehn Jahren eine Definition durchgesetzt, die unter Gesundheitskompetenz die nötigen kognitiven und sozialen Fähigkeiten eines Menschen dazu versteht, gesundheitsrelevante Informationen ausfindig zu machen, sie zu verstehen, beurteilen und anwenden zu können. 

Im Zentrum dieser Definition, die übrigens auf die erste internationale Studie zur Gesundheitskompetenz, HLS-EU (Health Literacy Survey Europe), aus dem Jahr 2012 zurückgeht, steht also der Umgang mit Gesundheitsinformationen, konkret das Finden, Verstehen, Beurteilen und Umsetzen von Gesundheitsinformationen. Zugleich werden mit dieser Definition Bezüge zur Partizipation und auch zu Empowerment hergestellt, denn Ziel ist immer die aktive informierte Entscheidungsfindung, sei es im Rahmen der Krankheitsbewältigung, der Prävention oder Gesundheitsförderung. 

Ein wichtiger Aspekt, der leider nicht explizit in der Definition des HLS-EU genannt wird, aber stets mitgedacht werden muss, ist, dass mit Gesundheitskompetenz immer auch die Rahmenbedingungen angesprochen sind, in deren Abhängigkeit Gesundheitsinformationen genutzt werden und Gesundheitskompetenz erworben wird: Stehen mir nur bedingt Gesundheitsinformationen über ein bestimmtes Gesundheitsproblem zur Verfügung oder sind diese so kryptisch formuliert, dass ich sie nicht verstehen kann, wird sich dies auch negativ in meiner Gesundheitskompetenz niederschlagen. Gesundheitskompetenz entsteht also erst im Zusammenspiel sowohl individueller Fähigkeiten als auch der System- und Informationsbedingungen, denen ich ausgesetzt bin. 

Dieses sehr umfassende, relationale, Verständnis von Gesundheitskompetenz beruht auf einer langen Historie und wurde mit der Zeit immer wieder weiterentwickelt. Auch deswegen wird es übrigens von Don Nutbeam und später auch von Rima Rudd als „evolving concept“ bezeichnet.

Das Konzept fand erstmals in den 1970er Jahren durch Scott K. Simonds im Rahmen der Gesundheitsbildung in Schulen Erwähnung. Verstärkte Aufmerksamkeit hat es aber erst rund 20 Jahre später bekommen, durch die großen angloamerikanischen Alphabetisierungsstudien der 1990er Jahre, wie dem National Adult Literacy Survey (NALS). Denn er zeigte, dass ein Großteil der US-amerikanischen Bevölkerung nicht über ausreichende Schreib- und Lesefähigkeiten verfügte. Dies führte rasch zu der Frage, welche Auswirkungen damit für die Krankheitsbewältigung und Gesundheitserhaltung einhergehen, konkreter, was passiert, wenn ich den Beipackzettel meiner Medikamente nicht richtig lesen oder verstehen kann. Erste Studien untersuchten daran anknüpfend die Gesundheitskompetenz, richtiger die Health Literacy einzelner Bevölkerungsgruppen – dies jedoch beschränkt auf rein funktionale Fähigkeiten, etwa Gesundheitsinformationen lesen oder schreiben zu können.


Welche Veränderungen ergeben sich in der Definition oder dem Begriffsverständnis beziehungsweise haben sich bereits aufgrund aktueller Entwicklungen ergeben?

Erst durch wichtige Erweiterungen, wie durch die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1998, die erstmals ein bis dahin stark medizinisch geprägtes und defizitorientiertes Verständnis von Gesundheitskompetenz durch eine auf Gesundheit und Ressourcenförderung zielende Lesart ersetzte, oder durch die von Don Nutbeam definierten drei Ebenen, die dem Konzept eine funktionale, interaktive und kritische Komponente zuschreiben, weitete sich das Verständnis zusehends. Gerade letztere, die kritische Gesundheitskompetenz, die Menschen einen hinterfragenden, differenzierten Umgang mit Gesundheitsinformationen ermöglicht, ist heute angesichts der wachsenden Zahl an Information und auch an Fehl- und Desinformation besonders wichtig.   

Seither sind viele weitere Definitionsvorschläge entstanden, so auch die zu Beginn aufgeführte Definition des HLS-EU, mit der eine systematische und summierende Bündelung bereits existierender Definitionen vorgenommen wurde. 

Heute beobachten wir, dass vor allem die Seite des Systems und der Gesundheitsorganisationen verstärkt an Bedeutung gewinnt, sowohl in der Gesundheitskompetenz-Forschung allgemein als auch in der Definitions- und Konzeptentwicklung. So hat sich in den vergangenen Jahren das Konzept der Gesundheitskompetenten Organisation (GKO) etabliert, das die Rolle der Gesundheitsorganisationen als Produzent und Vermittler von Gesundheitsinformationen hervorhebt. Das U.S. Department of Health and Human Services schlägt in diesem Zusammenhang sogar eine zweigeteilte Definition vor, in der die persönliche Gesundheitskompetenz ausdrücklich von der organisationalen Gesundheitskompetenz unterschieden wird. 

Dazu passt, dass neuerdings auch die Gesundheitskompetenz der Gesundheitsprofessionen und -berufe stärker in den Fokus gerückt ist; denn sie spielen als wichtige Informationsinstanz der Bevölkerung eine zentrale Rolle sowohl im GKO-Konzept als auch für die Förderung der Gesundheitskompetenz ihrer Patientinnen und Patienten. Auch hier wurde kürzlich ein neues Konzept und Messinstrument vorgestellt, das nicht, wie bisher in der Forschung üblich, auf die persönliche Gesundheitskompetenz der Gesundheitsprofessionen/-berufe abhebt, sondern auf deren Fähigkeiten, die Gesundheitskompetenz von Patientinnen und Patienten zu fördern. Auch hier hat sich also in gewisser Weise ein Perspektivwechsel vollzogen.


Wie gestaltet sich die aktuelle Datenlage zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung? Ist ein Trend erkennbar? Wenn ja, wie genau sieht dieser aus und welche Schlussfolgerungen und Empfehlungen lassen sich daraus ableiten?

Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland ist nicht sehr gut ausgeprägt. Darauf deuten die vorliegenden Studienbefunde der letzten Jahre hin. Zudem konnte die Studie HLS-GER 2, die wir an der Universität Bielefeld durchgeführt haben und die Teil des WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy ist, aufzeigen, dass sich die Gesundheitskompetenz im Zeitvergleich der Jahre 2014 und 2020 verschlechtert hat. Konkret hat sich der Anteil geringer Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung von rund 54 Prozent auf etwa 60 Prozent erhöht.  

Hinzu kommt, dass die Gesundheitskompetenz ungleich in der Bevölkerung verteilt ist und bestimmte sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, aber auch Menschen im höheren Lebensalter oder Menschen mit mehreren chronischen Erkrankungen, kurz Menschen, die im besonderen Maße auf das Gesundheitssystem und Gesundheitsinformationen angewiesen sind, über eine vergleichsweise geringe Gesundheitskompetenz verfügen.

In der Summe machen diese Befunde sehr deutlich, dass die Förderung der Gesundheitskompetenz nach wie vor eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe darstellt. Bevölkerungsgruppen, die besonders große Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen haben, sollten dabei besondere Beachtung erhalten. 

Dies gilt auch für bestimmte Teilbereiche der Gesundheitskompetenz, wie die navigationale oder digitale Gesundheitskompetenz, denn sie sind noch einmal deutlich schlechter ausgeprägt als die allgemeine Gesundheitskompetenz.


… und wie steht es um die Gesundheitskompetenz der Gesundheitsprofessionen?

Wie erwähnt, kommt für die Stärkung der Gesundheitskompetenz auch den Gesundheitsprofessionen und -berufen, besondere Bedeutung zu. Denn nach wie vor bilden sie die wichtigste Informationsquelle für Patientinnen und Patienten, begleiten diese zum Teil über viele Jahre und genießen hohes Vertrauen. Zugleich sind auch für sie die Anforderungen an die Aneignung und Vermittlung von Gesundheitsinformationen anspruchsvoller geworden. 

Allein durch die mit der Digitalisierung einhergehende Expansion an Wissen und auch an Fachinformationen müssen die Gesundheitsprofessionen/-berufe heute mehr denn je in der Lage sein, sich auf dem neuesten Stand des aktuellen Wissens zu halten und dieses auf ihr professionelles Handeln übertragen – sie sind also auf ein umfassendes Wissensmanagement angewiesen. 

Doch dies allein ist nicht ausreichend. Zusätzlich müssen sie die gefundenen Fachinformationen so an ihre Patientinnen und Patienten vermitteln können, dass diese verstanden, beurteilt und letztendlich für das eigene Gesundheitsverhalten und auch die gemeinsame Entscheidungsfindung über Gesundheits- und Versorgungsfragen herangezogen werden können. Dies alles erfordert professionelle Gesundheitskompetenz, die – wie eine Studie der Universität Bielefeld und der Hertie School Berlin mit der Stiftung Gesundheitswissen zeigt – in vielen Bereichen optimierungsfähig ist.


Inwiefern?

Zwar stellt sich die professionelle Gesundheitskompetenz der befragten Gesundheitsprofessionen/-berufe – hier Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende – insgesamt recht positiv dar, dennoch stehen sie bei etlichen Aufgaben vor Herausforderungen. Dazu gehört etwa der Umgang mit fehl- oder falschinformierten Patientinnen und Patienten, das Einordnen statistischer Befunde oder die Beurteilung der wissenschaftlichen Grundlage (Evidenz) von Informationen. Aber auch Patientinnen und Patienten dabei zu unterstützen, die Vertrauenswürdigkeit speziell digitaler Gesundheitsinformationen einzuschätzen, wird als besonders schwierig bewertet. 

Damit ist klar: Um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, benötigen auch die Gesundheitsprofessionen und -berufe eine bessere Gesundheitskompetenz und – so ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie – bessere Qualifikations- und Rahmenbedingungen.


Welche weiteren Daten zur Standortbestimmung der Gesundheitskompetenz sind relevant?

Vergleicht man die vorliegende Datenbasis zur Gesundheitskompetenz in Deutschland mit der vor einigen Jahren, lässt sich feststellen, dass sie sich stark erweitert hat: Mittlerweile verfügen wir über repräsentative Daten zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland, wir können grob abschätzen, wie sich die Gesundheitskompetenz in den letzten Jahren verändert hat und wie sich die Gesundheitskompetenz während der Corona-Pandemie darstellte. 

Zugleich ermöglichte es die Messung von sogenannten Teil-Literacies, Aussagen über bestimmte Teilbereiche, wie die Digitale oder Navigationale Gesundheitskompetenz zu treffen – und es liegen Untersuchungen zur Gesundheitskompetenz von einzelnen Bevölkerungsgruppen vor, etwa von Menschen mit Migrationshintergrund, von Kindern und Jugendlichen, von Menschen mit chronischen Erkrankungen und neuerdings auch zur professionellen Gesundheitskompetenz. 

Trotz des Zuwachses an Forschungsaktivitäten wird es zukünftig wichtig sein, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland systematischer als bisher zu erforschen. Dies wird auch im Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP) und in einem seiner acht Strategiepapiere gefordert. Dazu zählt, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und einzelner vulnerabler Bevölkerungsgruppen wiederholend zu messen, d.h., zu einem Monitoring zu kommen, so dass eine Beobachtung und Abschätzung der Entwicklung der Gesundheitskompetenz über Jahre möglich wird und auch damit die Wirkung möglicher gesellschaftlicher Veränderungen auf die Gesundheitskompetenz und auch von Interventionen zur Verbesserung dieser analysiert werden können. 

Zudem zeichnet sich ein zunehmender Bedarf an regionalen Daten ab, die gerade für eine lokale Standortbestimmung sowie die Entwicklung datenbasierter und zugleich regional angemessener Interventionen wichtig sein dürften. Ähnliches gilt für die Erforschung der organisationalen und professionellen Gesundheitskompetenz, denn gerade sie verspricht wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung eines gesundheitskompetenten Gesundheitssystems, seiner Organisationen sowie Akteurinnen und Akteuren.


Die Fragen stellte Simone Köser, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).


Lesen Sie dazu auch:

Weitere Informationen zur BVPG-Statuskonferenz „Gesundheitskompetenz fördern – Lebensqualität erhalten und verbessern“ finden Sie hier.

Gastbeitrag von Kristine Sørensen, Präsidentin der International Health Literacy Association: „Health literacy champions are in demand!“

Interview mit Prof. Julika Loss und Dr. Susanne Jordan, beide Robert Koch-Institut (RKI): Gesundheitskompetenz im Kontext von „Behavioural and cultural insights“.

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann: „Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung“.

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Dr. Lennert Griese | Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bielefeld, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK). Dort forscht er zu Themen der Gesundheitskompetenz und ist an nationalen und internationalen Studien zur Gesundheitskompetenz beteiligt. Er ist Teil des WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL) und des Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP).

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Gesundheitskompetenz„Health literacy champions are in demand!“

Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und umzusetzen. Warum ist eine hohe Gesundheitskompetenz so wichtig? Wie kann sie erlangt werden? Und welche Rolle spielen dabei die Gesundheitsprofessionen? Kristine Sørensen, Präsidentin der International Health Literacy Association, gibt Antworten.

Health literacy leadership – a new professional qualification?

A health literacy champion is a person or an organization who enthusiastically and relentlessly defends and fights for the cause of health literacy to the benefit of people and societies at largeSørensen, 2021

The growing awareness of the importance of health literacy has increased the interest in mobilizing changemakers who can help facilitate health literacy development of people and communities as well as organizations, strategies, and policies. However, little is still known about the role of the modern day’s health literacy champions, their practice, and virtues.

During history, the term champion has had different meanings. In modern times, a champion is usually envisaged as someone who has won the first prize and raise the trophy above his head. However, centuries ago a champion meant a knight who was fighting on behalf of others, someone who undertakes to defend a cause. The knights swore to defend the weak and to uphold virtues like compassion, loyalty, generosity, and truthfulness. These virtues also matter today, especially when the aim is to leave no one behind with regards to health literacy.


The importance of health literacy for people-centered services

Health literacy concerns the ability to access, understand, appraise, and apply information to manage health when being ill, at risk and wanting to stay healthy. Acknowledging that the response to health literacy issues is crucial to provide people-centered care, a growing number of organizations have begun to address system-level factors to support patients, clients, and consumers in making informed health decisions concerning treatment, prevention and promotion. It has also been recognized that addressing health literacy is an integral feature of delivering culturally and linguistically appropriate services to diverse populations. Essentially, addressing health literacy saves time, costs, and lives.

However, research made it evident that population health literacy limitations are a public health challenge. In response, professionals around the world have got engaged to bridge the gap. Health literacy is measurable and modifiable and taking action can help improve the health and well-being of people and societies. The catalyst of change is not always with the people. Most often, it is the professionals that are acting as change agents and advocate for its dissemination. In this regard, the question becomes apparent whether health literacy leadership is a new professional qualification in the making.


Health literacy leadership as a professional qualification in public health

A professional qualification refers to an advanced vocational credential based on specialized training in a specific profession or area of work. Pursuing a professional qualification can expand the opportunity for achieving a higher salary, qualify for a new position or earn specific recognition. For instance, across the world, several health literacy awards have been gifted to health literacy champions who have provided outstanding results and societal impact. The awards include, for example, the Well-Done Health Literacy Award launched by MSD in Belgium which aims to stimulate best practice-sharing to empower patients, optimize the communication between healthcare professionals and patients and ultimately to safeguard the sustainability of the healthcare system.

Due to the complexity of systems, new health challenges and advancement of technology – the need to be highly skilled and more adaptable is higher than ever before. As an inter-disciplinary skill health literacy is applied in a wide range of sectors. It is becoming a sought-after competence among academics, health professionals of all sorts, and in areas beyond health such as community work, journalism, publishing, IT technology, etc. Moreover, the call for healthcare organizations to meet the needs of the people they serve is spreading and the demand for employees trained in health literacy is therefore growing.


Bringing health literacy qualifications to life

Integrating health literacy as a strategic priority in all organizations requires health literacy training and leadership. Yet, it is not a given that professionals are skilled in conducting health literacy friendly communication and interventions. Health literacy is a professional qualification that needs to be nurtured and developed in professional educational programms and as part of post-graduate training in the workplace. Despite the call to action, only a few educational institutions and universities teaching health programms have so far included health literacy as an integral part of their curriculum. And there are even less opportunities for post-graduate training or workforce development in the field of health literacy. Other barriers include lack of commitment from the management, lack of resources and procedures and policies.

„Health literacy champions are in demand!“ – Kristine Sørensen

The health literacy qualification will only be brought to life when it is integrated into daily practice of the organizations involved in promoting health and well-being. To make a profound change, health literacy needs to be apparent in the boardroom as well as on the work floor. Organizational health literacy can help build a person-centered, evidence-based, and quality-driven organization, however, it requires a substantial change and reform of the organizational thinking.


Recognizing the need for health literacy leadership in organizations

To stimulate the process organizations are encouraged to identify change agents, health literacy champions, who can induce the process and develop it according to the organizations´ focus and context. The health literacy champions can move the agenda forward and explain the necessity to perform a change of practice. It may meet resistance, but mostly, the immediate impact of more content clients and patients also creates more content employees. Staff that helps to make it easier for clients and patients to access, understand, appraise and apply information to manage their health may also find it rewarding to see how an empowered patient will become more active and engaged and take control regarding self-care and needed actions for better outcomes. When patients and providers work in partnerships, it can undoubtedly enhance the success of the patient journey. The health literacy commitment needs to come from champions positioned in the highest levels of the organization to ensure a substantial impact.

Moving health literacy from the margin to the mainstream rarely happens without the engagement of health literacy champions. The challenge in the future is to keep recognizing people who can undertake the role of pushing health literacy to the next frontier through health literacy leadership. Acknowledging the need for the development of health literacy leadership as professional qualification and emphasizing the role of higher education institutions in this process can accelerate the process.


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Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann: „Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung“.

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Kristine Sørensen | Executive advisor on health literacy. She helps leaders improve health literacy by design. She has a background in public health and global health diplomacy and works with the public and private sector as well as civic society to develop health literacy for all. Kristine Sørensen is the president of International Health Literacy Association and chair of Health Literacy Europe.

Weiterführende Literatur:

Brach, C. (2017). The Journey to Become a Health Literate Organization: A Snapshot of Health System Improvement. Studies in Health Technology and Informatics, 240, 203–237. Retrieved from http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28972519

Brach, C., Dreyer, B. P., Schyve, P., Hernandez, L. M., Baur, C., Lemerise, A. J., & Parker, R. M. (2012). Attributes of a Health Literate Organization. Institute of Medicine.

Farmanova, E., Bonneville, L., & Bouchard, L. (2018). Organizational Health Literacy: Review of Theories, Frameworks, Guides, and Implementation Issues. Inquiry : A Journal of Medical Care Organization, Provision and Financing, 55, 46958018757848. https://doi.org/10.1177/0046958018757848

Sørensen, K. (2016). Making health literacy the political choice. A health literacy guide for politicians. Global Health Literacy Academy.

Sørensen, K. (2021). Health literacy champions in New Approaches to  Health Literacy. Linking Different Perspectives. Springer.


Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Gesundheitskompetenz„Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung“

Fast 60 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben eine geringe Gesundheitskompetenz – so das Ergebnis der zweiten repräsentativen Studie zur Gesundheitskompetenz, HLS-GER 2. Auch im Bereich der Gesundheitsförderung ist die Gesundheitskompetenz gering. Wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann, erläutert Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Mit-Initiator des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz (NAP).

Die Stärkung der Gesundheitskompetenz ist eines der BVPG-Schwerpunktthemen. Gesundheitskompetenz beschreibt die Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen ausfindig zu machen, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. 2018 hat der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP) vier Handlungsfelder – Lebenswelten, Gesundheitssystem, chronische Erkrankungen, Forschung – definiert und 15 Empfehlungen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz in Deutschland abgeleitet. Wie ist Ihre Bilanz nach fünf Jahren?

Beim Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP) muss man sich immer wieder klar machen: Es handelt sich hier um kein Programm der Bundesregierung, um keine gesetzliche Regelung. Der NAP Gesundheitskompetenz ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die von einer Gruppe von Wissenschaftlern mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung ins Leben gerufen wurde.

Zum fünfjährigen Jubiläum wird es auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e. V. (DGSMP) und des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz e. V. (DNGK) am 30. August 2023 eine Bilanzsitzung geben, auf der wir zurückblicken werden, was der NAP Gesundheitskompetenz bewirkt hat.


Ihr erstes Fazit?

Weil der NAP Gesundheitskompetenz  keine Initiative der Regierung, sondern eine von Universitäten, Hochschulen, Verbänden, Institutionen, Krankenkassen ist, hatten wir keine hohen Erwartungen. Wir wurden aber positiv überrascht und können heute sagen: Der NAP Gesundheitskompetenz hat Impulse zur Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung des Themas in den Lebenswelten und dem Versorgungssektor bis zu den chronischen Krankheiten gegeben. Und er hat dafür gesorgt, dass wichtige Akteurinnen und Akteure in den Austausch getreten sind. Es haben sich Netzwerke gebildet, es ist ein reger Transfer von Wissen und Erfahrungen eingetreten. Das Thema Gesundheitskompetenz ist auf die Agenda gekommen, wurde ernsthaft diskutiert und der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Also eine echte Erfolgsbilanz aus meiner Sicht.

Wir haben auch gelernt, dass der Begriff erklärungsbedürftig ist: Von einer „niedrigen Gesundheitskompetenz“ zum Beispiel bei Menschen mit chronischen Krankheiten  zu sprechen, ist äußerst missverständlich. Denn damit ist ja keine Defizitanzeige gemeint, sondern es wird vielmehr darauf hingewiesen, dass diese Menschen ganz besonders große Schwierigkeiten haben, sich die für ihre spezielle Situation geeigneten gesundheits- und krankheitsrelevanten Informationen zu suchen und auf ihre Bedürfnisse zu übertragen.

Alle diese Themen sind in den vergangenen fünf Jahren ins Bewusstsein gerückt, und es ist auf Bundes- und Landesebene, auf kommunaler Ebene, bei verschiedenen Institutionen und Organisationen, wie ja auch bei der BVPG eine intensive Debatte entstanden.


Der NAP hat 15 Empfehlungen zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in vier Handlungsfeldern – in den Lebenswelten, im Gesundheitssystem, bei chronischen Krankheiten und in der Forschung – formuliert. Konnten diese in die Praxis umgesetzt werden?

Ja, die Empfehlungen den NAP wurden aufgenommen und es wurden verschiedene Schritte eingeleitet, wie beispielsweise zur Fortbildung des Personals, zur Verbesserung von Informationsflüssen und zur Orientierung im Gesundheitssystem. Wir sehen zudem, dass das Thema eine weitere Durchdringung im Bereich Kita und Schule, auch am Arbeitsplatz, in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen, in Kommunen, in der Quartiersarbeit erfährt und es zu Verbesserungen kommt.


Im Bereich der Gesundheitsförderung liegt der Anteil der Bevölkerung mit geringer Gesundheitskompetenz bei fast 70 Prozent – also genau in dem Bereich, der Menschen dazu befähigen soll, ihre Gesundheit zu stärken, um so beispielsweise chronischen Erkrankungen vorzubeugen, deren Kuration wiederum das Gesundheitssystem stark belastet. Wie lässt sich dieser Wert erklären?

Die Hauptantwort lautet: Es sind die strukturellen Rahmenbedingungen, die hinderlich sind, also die Umweltbedingungen, die verhindern, dass ein gesundheitskompetentes Verhalten stattfindet, bzw. oftmals überhaupt möglich ist. Man ist also darauf angewiesen, dass es entsprechende Angebote gibt. Der direkte Einfluss, den die Einzelne oder der Einzelner hat, auch wenn noch so motiviert ist, sich gesundheitskompetent zu verhalten, ist oftmals gering.

Wir wären sehr einseitig, wenn wir beim Konzept der Gesundheitskompetenz stehenblieben bei dem Punkt: „Das ist das individuelle Verhalten, das entscheidet, ob jemand gesundheitskompetent ist.“ Die strukturelle Gesundheitsförderung findet oft zu wenig Beachtung. Das individuelle Verhalten ist permanent beeinflusst von den Rahmenbedingen – und deren Beeinflussbarkeit ist oftmals sehr anspruchsvoll. Zugleich hängt beides eng miteinander zusammen.


Ist also die beste Gesundheitsförderung die, die man nicht merkt?

Ja, das kann man wohl sagen. Die Angebote in einer Einrichtung, zum Beispiel in einer Arztpraxis, in einem Krankenhaus, in einer Pflegeeinrichtung, müssen so sein, dass es mir ganz leicht gemacht wird, mich gesundheitskompetent zu verhalten. Folgendes Beispiel dazu: Nehmen Sie eine Grundschule mit einem Kiosk oder einer Mensa, die Angebote haben, die alle Kriterien einer gesunden Ernährung erfüllen als auch den Anforderungen der Fachgesellschaften in diesem Sektor gerecht werden, dann macht es dies für Kinder und Jugendliche einfacher, ein gesundheitsförderliches Verhalten zu entwickeln.

Hier gilt der wunderbare Satz: „Die gesunde Wahl zur einfachen Wahl machen“. Auf diese Weise würde gesundheitskompetentes Verhalten gefördert werden, denn hier wird die individuelle Entscheidung unterstützt und muss nicht gegen die Strukturen getroffen werden.


Gesundheitskompetenz ist eine wesentliche Voraussetzung gesundheitlicher Chancengleichheit: Eine geringe Gesundheitskompetenz, geprägt durch niedriges Bildungsniveau, niedrigen Sozialstatus und kultureller Fremdheit, geht oft mit ungesundem Verhalten im Bereich Bewegung und Ernährung, Übergewicht, schlechterer subjektiver Gesundheit, mehr Fehltagen am Arbeitsplatz und intensiverer Nutzung des Gesundheitssystems einher. Doch vulnerable Gruppen zu erreichen ist oftmals gar nicht so einfach.

Wir haben hier ein echtes Dilemma. Gute Ansätze lassen sich schnell einführen, wenn die Sensibilität dafür vorhanden ist. Wo also eine gute Basis da ist, verbessert sich die Situation sehr schnell. Dort hingegen, wo die Voraussetzungen nicht gegeben und schwieriger umzusetzen sind und oftmals nicht interveniert wird, verschlechtert sie sich weiter. Das ist eine große Herausforderung, die für alle Settings gleichermaßen gilt. Bei vulnerablen Gruppen ist der Weg zu einem gesundheitsförderlichen Verhalten ein besonders langer Weg. Es müssen speziell geschulte Fachkräfte und passende Programme eingesetzt werden, um hier entsprechende Erfolge zu verzeichnen.


Gibt es Beispiele in den Settings, in der Schule?

Sogenannte „Brennpunktschulen“ sind zum Thema geworden – endlich! Denn wir wissen: Der Leistungsstand von Kindern und Jugendlichen hängt eng mit deren Gesundheitszustand zusammen. So gesehen ist eine Förderung der Gesundheit auch eine Förderung der Leistung und umgekehrt. Wir müssen also noch genauer hinschauen. Mehr und mehr setzt sich in den Bundesländern durch, Indikatoren zu erfassen, wie z.B. zum Bildungsgrad der Eltern, zur Sprachkompetenz, zum Migrationshintergrund, um so zu ermitteln, welche Schule eine besonders schwierige Klientel in Bezug auf die Leistungsförderung hat. Für eine gezielte Förderung plant die Bundesregierung ab dem Schuljahr 2024/2025 das Programm „Startchancen“ bundesweit einzuführen. Es soll bis zu 4.000 Schulen in sozial herausfordernder Lage fördern. Wenn hier die angesprochenen gesundheitsförderlichen Ansätze zum Zuge kommen, dann könnte viel erreicht werden.


Nicht-übertragbare Krankheiten, die einen sehr hohen Teil der Gesundheitskosten ausmachen, sind hoch komplex, beginnend oft schleichend und sind häufig in weiteren Stadien kaum spürbar. Hinzu kommt, dass sich die Krankheiten oftmals gegenseitig verstärken. Was bedeutet das für vulnerable Gruppen und deren Gesundheitskompetenz?

Die Corona-Pandemie war ein Lehrstück, denn sie hat uns gezeigt, wie in einer Ausnahmesituation der Umgang mit Wissen über Gesundheit und Krankheit zu einer wichtigen, besser: lebenswichtigen, Kompetenz geworden ist. Wir haben gesehen, wie schwierig es für viele Menschen war, Informationen zu verstehen, die sich zum Teil widersprachen oder nicht in die gleiche Richtung gingen. Daraus folgte eine Verunsicherung in der Bevölkerung. Jedoch wurde durch die Corona-Dauerinformation das Ausmaß der Schwierigkeiten, Informationen zu verarbeiten, abgesenkt, mit der Folge, dass die Corona-spezifische Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung angestiegen ist. Die Menschen wurden so dicht und eng mit Informationen zum angemessenen Verhalten angesprochen, dass sie sich gut orientieren konnten. Aus diesen Ergebnissen können wir lernen.

Zu den nicht-übertragbaren Krankheiten haben wir die Parallele: Je komplexer die Krankheitsbilder als auch deren Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sind, umso schwieriger sind diese zu verstehen. Sie machen es nicht leicht, gesundheitskompetent zu sein – das gilt für beide Seiten, sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für die Fachkreise. Im digitalen Zeitalter können beide Seiten auf demselben Informationsstand sein – und für alle ist es sehr schwierig geworden, die ständig steigende Masse von Gesundheitsinformationen kompetent einzuordnen.  

Fünf Jahre nach Erstellung des NAP lässt sich also sagen: Wir haben sehr gute Ansätze zur Stärkung der Gesundheitskompetenz in Deutschland, die Diskussion darüber ist in vollem Gange. Ich wünsche mir, dass sich weitere Vernetzungen bilden und die bereits etablierten Leuchtturmprojekte über Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in die Fläche getragen werden.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

Beitrag von Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der BVPG, zum Positionspapier „Weiterentwicklung des Handlungsfeldes Prävention und Gesundheitsförderung“.

Gastbeitrag von Kristine Sørensen, Präsidentin der International Health Literacy Association: „Health literacy champions are in demand!“

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Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann | Seit 2019 Senior Expert am Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (fibs), seit 2009 Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School – University of Governance. Forschungsschwerpunkte: Bildung, Sozialisation und Gesundheit. Hurrelmann hat zahlreiche Lehrbücher verfasst und leitete verschiedene Familien-, Kinder- und Jugendstudien. Seit 2020 gibt er zusammen mit Simon Schnetzer die Trendstudien „Jugend in Deutschland“ heraus. Seit 2002 gehört er dem Leitungsteam der Shell Jugendstudien an.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: 75 Jahre WHO„Health For All – 75 years of improving public health“

Am 7. April, dem Weltgesundheitstag, feiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit „Health For All – 75 years of improving public health“ ihr langjähriges Bestehen. Zum Jubiläum spricht Dr. Rüdiger Krech, Director Health Promotion, WHO, über Meilensteine der letzten Jahrzehnte, Vorbilder aus anderen Ländern und die zukünftige Rolle von Prävention und Gesundheitsförderung.

Am Weltgesundheitstag blickt die WHO mit „Health For All – 75 years of improving public health“ zurück auf die Erfolge seit dem Gründungsjahr 1948. Was waren die Meilensteine der vergangenen Jahrzehnte?

Wir freuen uns besonders, dass laut einer aktuellen Gallup Umfrage die WHO die respektierteste Internationale Organisation ist und von den meisten Menschen auf der Welt geschätzt wird. In jedem Jahrzehnt gab es Meilensteine, bei denen die WHO mitgewirkt hat, wie beispielsweise: der Aufbau von Public Health-Infrastrukturen in den 50er Jahren; die Ausrottung der Pocken in den 60er, Anfang 70er Jahren; die Umsetzung der Konzepte für gesündere Lebensweisen in den 80er und 90er Jahren; zu sozialen Determinanten und Allgemeinem Zugang zu Gesundheitsleistungen in den 90er und frühen 2000er Jahren.

Aber die normative Arbeit, die oftmals nicht so im Fokus der Aufmerksamkeit steht, trägt besonders zur Gesundheit der Menschen bei: ob Nahrungsmittelsicherheit, Richtlinien zur Ernährung, Arbeitsschutzrichtlinien, Zulassung von Medikamenten in etwa 100 Ländern auf der Welt, Nachtflugverbote, Wasserqualität, Verkehrssicherheit, Emissionsschutzgesetze, Richtlinien für Krankenhaussicherheit, rechtlich bindende Konventionen zur Tabakkontrolle und zu Internationalen Gesundheitsvorschriften bei Ausbruch von Pandemien – all diese nationalen Richtlinien basieren meist auf der Analysearbeit der WHO und ihren Empfehlungen.

Unser Jubiläum sollte aber nicht nur eine Bestandsaufnahme des Erreichten sein – es soll uns auch in die Zukunft blicken lassen: Wie soll die WHO in den nächsten Jahrzehnten oder besser noch in den nächsten fünf Jahren aussehen? Wir leben in einem Jahrzehnt der Krisen, in einer Zeit, die von Unsicherheit und Wandel geprägt ist. Wie können wir helfen, diese Welt resilienter zu machen, um so mit entstehenden Krisen besser umgehen zu können? Die Notwendigkeit einer effizienten und koordinierenden globalen Institution ist so wichtig wie nie zuvor in der Geschichte der WHO!


Wir haben in Deutschland mit ungesundem Lebensstil und dessen Folgen zu kämpfen. Durch die Pandemie hat sich dieses Problem und die gesundheitliche Ungleichheit noch verschärft. An welchen Ländern müsste sich Deutschland orientieren, um Prävention und Gesundheitsförderung wirksamer werden zu lassen – für alle Bevölkerungsgruppen und in allen Lebenswelten?

Zunächst einmal besteht in Deutschland eine große Chancenungleichheit. Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die sich sehr gesundheitsbewusst ernähren und verhalten.

Deutschland ist gleichzeitig erstaunlicherweise aber auch oftmals das Schlusslicht in Europa, wenn es um gesunde Lebensweisen geht. Das liegt zum einen an einer derzeit schwachen Infrastruktur im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention, die eine koordinierte Public Health-Arbeit in diesen Bereichen erschwert. Zum anderen liegt es an einem laxen Umgang mit rechtlichen und fiskalpolitischen Instrumenten, die Deutschland eigentlich viel besser nutzen könnte.

Der Anstieg an vermeidbaren chronischen Erkrankungen wird die Krise im Gesundheitssystem noch weiter verstärken. Dabei sind 65 Prozent aller Herzkreislauf- und Krebserkrankungen, Diabetes und Erkrankungen der Atemwege vermeidbar. Dazu: Die letzte Anhebung der Tabaksteuer in Deutschland liegt unterhalb des Inflationsniveaus und macht Rauchen im Endeffekt billiger, nicht teurer. Die Tabakkonzerne reiben sich die Hände.

Aufgrund eines extrem hohen pro Kopf Verbrauchs von Zucker, der viel zu billig und überall zu haben ist, wird es in den nächsten Jahren einen weiteren starken Anstieg von krankhaft fettleibigen Menschen in Deutschland geben. Es muss ein radikales Umdenken in Deutschland stattfinden, wenn das deutsche Gesundheitssystem nicht zerbrechen soll.

Andere Länder haben die Lobby der krankmachenden und todbringenden Industrie in der Tat besser im Griff. Von Australien, Neuseeland oder Mexiko kann man einiges lernen.


Was bedeutet das UN-Nachhaltigkeitsziel 3 (Sustainable Development Goal 3, kurz: SDG 3) „Good Health and Well Being“ für Industrienationen wie Deutschland? Welchen Beitrag können Prävention und Gesundheitsförderung zum Erreichen dieses Zieles leisten?

Das Ziel umfasst ja etliche Public Health-Bereiche – vom Recht auf reproduktive Gesundheit über allgemeinen Zugang zu Gesundheitsleistungen bis zu Verbesserungen im Bereich von Umwelt und Gesundheit. Aufgelistet werden aber auch konkrete Aktivitäten, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Deutschland ist hier bei vielen Aktivitäten gut aufgestellt. Aber es gibt dennoch dringenden Handlungsbedarf. So kann der Zugang zu Impfstoffen und Arzneimitteln nicht als „Charity“ verstanden werden, sondern muss auf dem Prinzip der Solidarität und auf Basis von epidemiologischen Daten erfolgen, wenn eine weitere Pandemie in diesem Jahrzehnt nicht weitaus schlimmere Folgen haben soll als die derzeitige.

Darüber hinaus wächst die Unsicherheit der Menschen, weil sie die Vielzahl und die Tragweite der derzeitigen Krisen nicht gut einschätzen können. Gesundheitsförderung ist der Prozess, „Menschen zu befähigen, Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen“. Dazu muss man Menschen befähigen, Informationen gezielter zu bekommen, einzuordnen und für den persönlichen Lebensbereich und den damit verbundenen Verhaltensentscheidungen zu nutzen. Die Gesundheitsförderung hat dazu in den letzten vierzig Jahren hervorragende Instrumente entwickelt, die jetzt breit genutzt werden sollten. „Co-design“, „Befähigungsstrategien“, „Bürgerbeteiligung“, „Gesundheitskompetenz“ und „gesundheitsförderliche Gesamtpolitiken“ sind hier nur einige – zugegebenermaßen etwas sperrige – Begriffe, die die Kernkompetenz der Gesundheitsförderung beschreiben.


Die Stärkung der Lebenswelt-/Settingorientierung, die Förderung der Gesundheitskompetenz sowie die Verankerung von Gesundheit in allen Politikbereichen (Health in All Policies, HiAP) gehören zu den thematischen Schwerpunkten der BVPG 2021-2023. Das sind auch Inhalte, die für das WHO-Ziel #HealthForAll von Bedeutung sind.

Absolut. Die Umsetzung von populationsspezifischen Public Health-Interventionen findet in den Lebensräumen der Menschen statt, also dort wo Menschen leben, arbeiten, spielen, googeln. So sind Schulen, Arbeitsplätze oder Städte, aber auch Regionen oder Inseln Orte, die man gesundheitsfördernd gestalten kann.

Verstehen wir beispielsweise Schulen als Lebensraum, in dem Schülerinnen und Schüler, Eltern, Angestellte und Lehrerkräfte einen Großteil ihres Tages verbringen, wird man den Schulalltag mit den Curricula, dem Schuldesign, den Versorgungsleistungen, den Schulwegen, der Art der Entscheidungsfindung und des Schulmanagements insgesamt in den Blick nehmen und auf ihre Auswirkungen auf die Gesundheit ausrichten.

„Health in all Policies“ ist ein Ansatz, der die möglichen Auswirkungen von politischen Entscheidungen auf die Gesundheit in den Blick nimmt. Dabei werden politische Optionen erarbeitet, die als Entscheidungshilfe dienen. Wir haben gerade bei COVID gesehen, wie stark eine Gesundheitskrise in alle Bereiche unseres Lebens eingreift.

Wir kannten die Zusammenhänge der öffentlichen Gesundheit mit Wirtschaft, Mobilität, Abfallwirtschaft, Finanzen, Bildung, Landwirtschaft oder Sozialem. Aber wie wichtig Entscheidungen in den Bereichen Stadtplanung, Kommunikation, Logistik, Beschaffungswesen, IT Technologien oder im Kulturbereich sind, ist vielen erst jetzt so richtig deutlich geworden. Diese Erfahrungen sollten wir nun nutzen, um Gesellschaften zu schaffen, die unser aller Wohlbefinden fördern. Ich finde, dass dies ein hervorragendes politisches Ziel ist, welches wir alle gemeinsam angehen könnten!


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

Lesen Sie dazu auch:

Interview mit BVPG-Präsidentin Dr. Kirsten Kappert-Gonther MdB: „Es muss einfacher werden, einen gesunden Alltag zu leben.“

Interview mit Caroline Costongs, Direktorin von EuroHealthNet (EHN): „We need a systemic change to protect the wellbeing of people and planet.“

Informationen zum Weltgesundheitstag 2023 und zum 75. Jubiläum der WHO finden Sie hier.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Dr. Rüdiger Krech | Since 2019 Director of the Department of Health Promotion at the World Health Organization (WHO) in Geneva. He heads WHO’s work on risk factors such as tobacco consumption and harmful use of alcohol and is responsible for work on health-promoting settings and programs for more physical activity. In addition to the normative work, his team supports Member States with appropriate health promotion instruments, such as health literacy, empowerment and community engagement, public health legislation and fiscal measures to design well-being societies.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: Diabetesprävention„Diabetesprävention: sichtbar machen und weiter nach vorne bringen!“

Zur Prävention von Diabetes mellitus hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) die „Nationale Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus” entwickelt. Prof. Dr. Martin Dietrich, kommissarischer Direktor der BZgA, erläutert die Strategie.

Herr Professor Dietrich, warum ist es wichtig, die Bevölkerung über Diabetes zu infomieren?

In Deutschland leben etwa 7 Millionen Menschen mit Diabetes und 1,3 Millionen von ihnen wissen es gar nicht. Typ-2-Diabetes ist im Erwachsenenalter mit etwa 93 Prozent die häufigste Diabetesform und steigt mit zunehmendem Alter an. An Typ-1-Diabetes erkrankt man hingegen vorwiegend im Kindes- und Jugendalter. Die Krankheit kann Folgeerkrankungen an Organen verursachen, und Menschen mit Diabetes sowie ihre Angehörigen leiden oftmals unter psychosozialen Belastungen. Das Risiko, einen Diabetes zu entwickeln wird häufig unterschätzt. So gehen knapp 80 Prozent der Menschen mit einem erhöhten Diabetesrisiko davon aus, ihr Risiko sei eher gering, an Diabetes zu erkranken. Auch die Hausärzteschaft vermutet, dass der Wissensstand und das Risikobewusstsein zu Diabetes bei ihren Patientinnen und Patienten gering bis mittelmäßig sind.


Was kann eine effektive Diabetesprävention leisten?

Ein gesunder Lebensstil kann das Risiko deutlich reduzieren, an Typ-2-Diabetes zu erkranken oder Folgeerkrankungen bei bestehendem Diabetes zu entwickeln. Übergewicht und Adipositas sind dabei wichtige beeinflussbare Faktoren und die gegenwärtigen Umgebungs- und Lebensbedingungen – die häufig Bewegungsmangel – und unausgewogene Ernährung fördern – begünstigen einen Anstieg von Typ-2-Diabetes. Andererseits können Typ-2-Diabetes sowie auch weitere nicht übertragbare Erkrankungen durch geeignete und sich ergänzende verhaltens- und verhältnisbezogene Maßnahmen teils verhindert werden. Diese Maßnahmen sollten die Bevölkerung auch für die Herausforderungen der Diabetesprävention sensibilisieren, ihr aber ebenfalls die Möglichkeiten aufzeigen, ihnen zu begegnen. Dazu zählt auch, gesichertes Wissen zu Gesundheitsfragen zu vermitteln, die Gesundheitskompetenz zu erhöhen und Selbstwirksamkeit zu stärken.


Welche Aufgabe hat die BZgA bezüglich der Diabetesaufklärung?

Die BZgA hat die originäre Aufgabe, die Bevölkerung durch qualitätsgesicherte Aufklärung zu Gesundheitsthemen zu informieren und sie durch adressatengerechte Ansprache zu einer gesunden Lebensweise zu motivieren. Dabei sind Teilhabe von Zielgruppen und Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen, sozialversicherungsrechtlichen sowie staatlichen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern wesentliche Bausteine für den Erfolg präventiver Maßnahmen.

Daher ist es folgerichtig, dass die BZgA durch das BMG betraut wurde, an der Entwicklung der „Nationalen Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus“ mitzuwirken und diese zu koordinieren. Gemeinsam mit dem eigens eingerichteten Fachbeirat mit Vertretungen aus für die Diabetesaufklärung relevanten Verbänden sowie Organisationen und Institutionen wurde die Strategie mit ihren Handlungsfeldern, Zielen und Zielgruppen in einem partizipativen Prozess erarbeitet und im November 2022 veröffentlicht (www.diabetesnetz.info).


Was umfasst die Nationale Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus?

Der Fokus der Nationalen Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus liegt auf der Verhaltensprävention durch nicht stigmatisierende Information und Aufklärung zu Diabetes und seinen Risiko- und Schutzfaktoren – inbesondere zu Typ-2-Diabetes. Die Strategie soll dazu beitragen, dass in der Bevölkerung der Wissensstand über Diabetes verbessert, die gesellschaftliche Akzeptanz der Erkrankung gesteigert sowie das präventive und gesundheitsförderliche Verhalten gestärkt werden. Gemeinsam mit dem Fachbeirat wurden hierzu drei Handlungsfelder formuliert.

Handlungsfeld I „Diabetes vermeiden“ fokussiert auf die Primärprävention des Typ-2-Diabetes und die Gesundheitsförderung. Dabei werden insbesondere die Risikofaktoren Übergewicht und Adipositas, körperliche Inaktivität, unausgewogene Ernährung sowie Rauchen adressiert.Handlungsfeld II „Diabetes früh erkennen“ setzt den Schwerpunkt auf die sekundärpräventiven Früherkennungsmöglichkeiten hinsichtlich Typ-2-Diabetes und Gestationsdiabetes, die die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung kostenlos in Anspruch nehmen können.Handlungsfeld III „Diabetes gut behandeln“ legt den Schwerpunkt auf die Vermeidung oder Abmilderung diabetesspezifischer Komplikationen bzw. Folgeerkrankungen durch verbesserte Kenntnis von Möglichkeiten, wie ein bereits bestehender Diabetes gut behandelt werden kann und sich nicht weiter verschlimmert.


Welche Zielgruppen sollen angesprochen werden?

Generell soll die Strategie die Allgemeinbevölkerung ab 18 Jahren ansprechen. Wichtige Teilzielgruppen sind Menschen mit einem besonderen Diabetesrisiko (medizinische Aspekte: z. B. Menschen mit genetischer Disposition, übergewichtige Menschen, schwangere Frauen), vulnerable Gruppen (soziale Aspekte: z. B. Menschen mit Migrationshintergrund, niedrigem sozioökonomischem Status, geringerer Bildung, höherem Lebensalter) sowie Menschen mit Diabetes. Dabei werden auch die in den Lebenswelten wichtigen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wie medizinisches Fachpersonal (u. a. Ärzteschaft, Ernährungsberaterinnen und Ernährungsberater, Diabetesberaterinnen und Diabetesberater) sowie pädagogisches Fachpersonal (u. a. Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte) einbezogen.


Welche Unterstützung leistet das derzeit in der Gründung befindliche Kooperationsnetzwerk zur Diabetesprävention?

Es gibt in Deutschland bereits zahlreiche Akteurinnen und Akteure, die zu Diabetes und seinen Risiko- und Schutzfaktoren Aufklärungsarbeit leisten. Um hier Synergieeffekte zu nutzen und Lücken aufzuzeigen, soll ein Kooperationsnetzwerk aufgebaut werden. In diesem sollen prioritäre konkrete Ziele formuliert und darauf aubauend die weitere qualitätsgesicherte Maßnahmenplanung und -umsetzung erfolgen. Die Vielfalt der Akteurinnen und Akteure mit ihren unterschiedlichen Präventionsansätzen bleibt erhalten und unterstützt die Weiterentwicklung innovativer Kommunikationsansätze. In die Maßnahmenplanung und -umsetzung fließen auch Ergebnisse der Projekte ein, die bereits im Rahmen der Strategieentwicklung durchgeführt wurden und auf die aufgebaut werden kann. Im Fokus steht dabei das Diabe-tesinformationsportal diabinfo.de, das bereits als zentrale Plattform für die Verbreitung von Informationen zu Diabetes entwickelt wurde und weiterentwickelt wird.


Wie geht es weiter?

Die im November 2022 veröffentlichte Nationale Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus ist als Grundstein zu verstehen. Nun gilt es, zusammen im Rahmen des aufzubauenden Kooperationsnetzwerks „Diabetesnetz Deutschland – gemeinsam gesünder“ die Strategie wirksam in die Praxis umzusetzen und weiterzuentwickeln. Die Herausforderungen liegen dabei in der Komplexität der Diabetesprävention, in der Entwicklung eines integrierten und abgestimmten Umsetzungskonzepts und darin, die Nachhaltigkeit der Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie sicherzustellen. Das Kooperationsnetzwerk bietet die Chance, der Diabetesprävention mehr Sichtbarkeit und mehr Gewicht zu geben und sie damit weiter nach vorne zu bringen.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

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Prof. Dr. Martin Dietrich | Seit 2021 Kommissarischer Direktor der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), zuvor stellvertretender Leiter. W3-Professur für Betriebswirtschaftslehre (BWL) an der Universität des Saarlandes, Management des Gesundheitswesens, Schwerpunkt Innovation und Versorgungsentwicklung, seit 2017 Honorarprofessor. Studium der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Schwerpunkt Management im Gesundheitswesen.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bereitet Informationen zur Prävention und Gesundheitsförderung adressatengerecht auf und koordiniert ihre Dissemination. Dies umfasst die Entwicklung von Konzepten und Materialien (z. B. Anzeigen, Plakate, Broschüren, audiovisuelle Medien, Ausstellungen, Mehrebenenkampagnen) und ihre Streuung in Zielgruppen sowie die Evaluation der Maßnahmen. Die BZgA unterstützt zudem die Qualitätsentwicklung in der Prävention und Gesundheitsförderung

Digitalisierung in der Prävention und Gesundheitsförderung„Angebote der Setting-Prävention: ab 2024 auf einer innovativen Online-Plattform“

Die DIFA (Digitale Infrastruktur für Angebote in der Setting-Prävention) ermöglicht erstmalig, Angebote der Setting-Prävention auf einer digitalen Plattform zentral und niedrigschwellig zu bündeln. Initiator der Plattform ist der Verband der Privaten Krankenversicherung e. V.. Dr. Timm Genett, Geschäftsführer Politik im PVK-Verband, spricht über die Planungen.

Herr Dr. Genett, warum braucht es eine DIFA?

Digitale Gesundheitslösungen gewinnen mehr und mehr an Relevanz. Dazu zählen nicht mehr nur Apps zur individuellen Verhaltensänderung, sondern auch digital unterstützte Angebote im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention in Settings wie Schulen, Pflegeeinrichtungen oder Jugendhilfen. Wie wichtig diese Angebote sind und wie groß die Entwicklungs- und Innovationsbedarfe sind, hat sich vor allem während der SARS-CoV-2-Pandemie gezeigt. Digitale und hybride Angebote sind nicht mehr wegzudenken und werden in vielen Bereichen Mittel der Wahl sein.

2020 haben wir Pathways Public Health GmbH mit einer Expertise zur Recherche und Analyse für eine digitale Plattform in der Setting-Prävention beauftragt. Ein zentrales Ergebnis: Digitale Angebote der Setting-Prävention sind oft schwer auffindbar, selten miteinander verknüpft und häufig nicht in dem Umfang und der Qualität verfügbar, den sich Nutzende wünschen. Bisher gibt es keine technische Lösung, die alle Leistungen der Setting-Prävention gut abbildet. So entstand die Idee, eine digitale Infrastruktur für diese Setting-Angebote zu entwickeln: die DIFA. Sie soll der digitale Ort für möglichst viele settingbezogene Präventionsangebote nach § 20a SGB V bzw. § 5 SGB XI werden – egal ob für Kitas, Schulen, Vereine oder Pflegeeinrichtungen.


Wer profitiert von der DIFA?

Wir möchten eine Plattform entwickeln, die zur Teilnahme an Präventionsangeboten motiviert und verschiedenste Bedürfnisse berücksichtigt. Daher wurden zunächst Interviews und Workshops mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen digitale Versorgung, Pflege, Bildung und Prävention durchgeführt. Daraus konnten wir die zentralen Anforderungen an eine Plattform ableiten: Die Plattform soll multifunktional sein und Schulung, Beratung, Projektmanagement und Vernetzung digital oder hybrid ermöglichen. Außerdem wünschen sich die befragten Personen Trainings für einen geschulten Umgang mit digitalen Angeboten und den damit verbundenen Technologien. Denn digitale (Gesundheits-)Kompetenzen können wir nicht bei allen voraussetzen.

Weiterhin besteht der Wunsch nach einer gut auffindbaren und leicht verständlichen Übersicht aller analogen, hybriden und digitalen Angebote der PKV und deren Partnerinnen und Partner. Mit unserer Plattform möchten wir eine Antwort auf diese Anforderungen liefern: Leistungserbringende sollen settingbezogene Präventionsleistungen auf der Plattform entwickeln und anbieten können, Leitungskräfte aus Settings (z. B. leitende Angestellte in Pflegeeinrichtungen oder Kita-Träger) sollen Präventionsprogramme auffinden, initiieren sowie managen können und verschiedenste Gruppen von Nutzenden (z. B. Pflege- und Lehrkräfte, Eltern oder Schülerinnen und Schüler) an den Angeboten teilnehmen können.

Die Plattform wird aber nicht nur für uns und unsere Kooperationspartnerinnen und -partner nutzbar sein, sondern auch für weitere Akteurinnen und Akteure aus dem Bereich der Gesundheitsförderung. Angestrebt wird eine so genannte White Label-Lösung: Entwickelnde und Anbietende von Setting-Programmen sollen künftig große Teile der Plattform im eigenen Corporate Design und nach ihren Nutzungsvorstellungen (z. B. Inhalte, Farben, Logos) beziehungsweise gemäß den Bedarfen der teilnehmenden Gruppen gestalten können.  


Was ist das Innovative an der neuen Plattform?

Ein wichtiges Element der Plattform werden die Projekträume sein. Nutzende werden diese nach ihren eigenen Bedarfen gestalten können. Mithilfe verschiedenster Tools findet hier Beratung, Schulung und Vernetzung statt – alles an einem Ort und optimal aufeinander abgestimmt.

Das auf Moodle basierende Learning Management System ist State-of-the-art. Dank seines Open Source-Ansatzes ist sichergestellt, dass es kontinuierlich verbessert und weiterentwickelt wird. Durch die Eigenentwicklung ermöglicht die Plattform erstmals Projektmanagement-Tools in Moodle – hier schaffen wir einen deutlichen Mehrwert gegenüber vorhandenen technischen Lösungen.

Die Plattform ist ein partizipatives Kooperationsprojekt: Die nutzerzentrierte Umsetzung der Plattform übernimmt IBM iX Berlin GmbH. Die Präventionsprogramme, die wir mit vier unserer Kooperationspartnerinnen und -partner entwickeln, dienen als Pilotprojekte für die DIFA. Die vier Teams entwickeln parallel erste digitale Angebote – von E-Learnings über digitale Beratungskonzepte bis hin zu individuellen Online-Coachings. Hierbei handelt es sich um das WIR – Walk In Ruhr, Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin, DSPN – Dein Starker Partner für Netzwerke GmbH & Co. KG, die Schwulenberatung Berlin gGmbH und die contec GmbH, die Unternehmens- und Personalberatung in der Gesundheits- und Sozialwirtschaft.

Nicht nur das Endprodukt selbst, also die multifunktionale Plattform, hat Innovationscharakter. Auch mit dem Prozess der Entwicklung als umfassendes Verbundprojekt gehen wir neue Wege. So ist es stark multiprofessionell und -perspektivisch ausgerichtet, um auf verschiedene Bedürfnisse und Anforderungen zu antworten. Pathways Public Health GmbH ist mit dem Verbundpartnermanagement betraut. Sie managen Informationen, Risiken und Chancen im Projektverlauf, koordinieren Aufgaben und Termine, vermitteln und coachen die Projektpartnerinnen und -partner sowie weitere Stakeholder.


Wie stellen Sie die Qualität der DIFA sicher?

Die Qualität der Plattform sichern wir durch zwei Evaluationen, die fortlaufend Gestaltungs- und Optimierungsimpulse an das Entwicklungsteam herantragen. Hiermit sind Univation, die Universität für Weiterbildung Krems sowie das August-Wilhelm Scheer Institut betraut. Ein Fachbeirat begleitet das Vorhaben seit August 2022. Dieser setzt sich aus Organisationen aus den Bereichen Prävention und Digitalisierung zusammen – viele Perspektiven kommen so zusammen. Im Beirat vertreten sind u. a. die Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG), das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), der Deutsche Landkreistag (DLT), die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V.


Wann wird die DIFA verfügbar sein?

2023 erfolgt ein sogenannter softer Launch – ab dann können unsere Pilotpartnerinnen und -partner Schulung, Beratung und Vernetzung anbieten und durchführen. Die öffentliche Webseite mit Informationen zu ihren Präventionsprogrammen ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht für die breite Öffentlichkeit zugänglich. Es folgt zunächst eine Evaluationsphase unter Berücksichtigung von weiteren Tests unter den Nutzenden. Im Anschluss stellen weitere PKV-Partnerinnen und -partner ihre Angebote auf der Plattform ein, wobei diese parallel entsprechend der Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer weiterentwickelt wird. Im Anschluss an diese zweite Phase erfolgt 2024 der offizielle Launch und somit die Verfügbarkeit der Plattform für die breite Öffentlichkeit. Ab diesem Zeitpunkt können auch andere Institutionen auf die White Label-Variante der Plattform zugreifen und diese für ihre Zwecke nutzen und weiterentwickeln.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).

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Dr. Timm Genett | Seit 2005 beim Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Verband) tätig; seit 2015 als Geschäftsführer Politik. Seit 2015 ehrenamtlich Vorsitzender der Stiftung Gesundheitswissen. Von 2000 bis 2005 Büroleiter des Bundestagsabgeordneten Günter Baumann (CDU/CSU). Studium der Geschichte, Politik und Philosophie in Münster, Berlin und Turin. Promotion über den Soziologen Robert Michels.

Der Verband der Privaten Krankenversicherung e.V. (PKV-Verband) ist freiwilliges Mitglied der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) und investiert jährlich rund 22 Millionen Euro in die Lebensweltenprävention. Um die Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig zu verbessern, arbeitet die PKV mit einem großen Netzwerk von Partnerinnen und Partnern zusammen. Dabei setzt der Verband verstärkt auf innovative digitale Technologien.

Transkulturell sensible Gesundheitsförderung„Transkulturell sensible Gesundheitsförderung partnerschaftlich gestalten!“

Eine transkulturell sensible Gesundheitsförderung kann die Erreichbarkeit vulnerabler Zielgruppen erleichtern und zum Gelingen von Maßnahmen beitragen. Ramazan Salman, Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums (EMZ), über das seit Jahren erfolgreich eingesetzte Gesundheitsprojekt „MiMi – mit Migranten, für Migranten“.

Jeder Kulturkreis hat andere Zugänge zu Prävention und Gesundheitsförderung. Transkulturelle Kompetenz und Sensibilität rücken verstärkt in den Fokus fachlichen Handelns. Wie lassen sich Migrantinnen und Migranten erfolgreich erreichen?

In Deutschland leben 22,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, sie bilden aktuell rund 26,7 Prozent der Bevölkerung. Die Zusammensetzung dieser Bevölkerungsgruppe ist kulturell, religiös, sozial und sprachlich von extremer Diversität geprägt.

Studien zeigen, dass bei Menschen mit Migrationshintergrund die Gesundheitskompetenz (Health Literacy) im Durchschnitt geringer ist als bei der Gesamtbevölkerung.

Das Ethno-Medizinische Zentrum e.V. (EMZ) hat sich deshalb als Migrationsorganisation zum Ziel gesetzt, die Gesundheitskompetenz von Menschen aus dem migrantischen Umfeld zu verbessern, um deren Gesundheitsrisiken zu mindern. Wir helfen ihnen seit 1989 dabei, sich im komplexen deutschen Gesundheitssystem zurechtzufinden, fördern gesunde Lebensweisen und tragen zu transkultureller Sensibilität und Handlungskompetenz im Gesundheitswesen bei.

Wir haben durch unsere Arbeit erfahren, dass Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete Informationen benötigen, um ihrerseits die kulturellen, religiösen, sozialen und gesundheitlichen Sichtweisen und Werte des Aufnahmelandes zu verstehen. Die Überwindung von Barrieren ist also eine Aufgabe auf Augenhöhe, in der gemeinsam „Anpassungsleistungen“ beziehungsweise „Integrationsmotivation erfolgen muss. So können auf der einen Seite transkulturell sensible Handlungskompetenz und auf der anderen Seite Gesundheitskompetenz aufgebaut werden und im Ergebnis Vertrauen und Compliance entstehen.


Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland stehen den Herausforderungen einer zunehmend von Diversität geprägten Gesellschaft gegenüber. Das Ethno-Medizinische Zentrum verfügt mit seinen transkulturellen Gesundheitskompetenz-Ansätzen über umfangreiche Erfahrungen in der Förderung von Gesundheitskompetenz und gesundheitlicher Chancengleichgleichheit bei Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchteten – insbesondere durch den Einsatz des „MiMi-Programms“.

Das MiMi-Programm ist eine soziale Schlüsseltechnologie zur Entwicklung transkultureller Gesundheitskompetenz, Etablierung gesunder Lebensweisen und zur Förderung gesellschaftlicher Teilhabe. Es fördert die Inanspruchnahme von Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens und den Zugang zu muttersprachlichen, transkulturell sensiblen Gesundheitsinformationen für Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchtete.

Die Implementierung eines MiMi-Programms in einer Kommune beziehungsweise einem Standort dauert erfahrungsgemäß zwölf bis 18 Monate. Die MiMi-Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren erfüllen Mindestanforderungen in Bezug auf Bildung, Sprachkenntnisse und Berufserfahrung und in der Regel ist ihr persönlicher Integrationsgrad weit fortgeschritten.

Für das MiMi-Programm wurde ein umfassender standardisierter Lehrplan erstellt. Die Schulungen werden als „Executive Education“ in deutscher Sprache abgehalten und befähigen zur Planung, Durchführung und Evaluation von Gruppenveranstaltungen.

Im Rahmen der MiMi-Kampagnen und Informationsveranstaltungen für Migrantinnen und Migranten werden mehrsprachige Gesundheitswegweiser-Broschüren, in denen die Teilnehmenden schriftliche Informationen in ihrer Muttersprache erhalten, verbreitet. Diese „Health Guides“ stehen in bis zu 18 Sprachen als Schwerpunkthefte zu den jeweiligen gesundheitlichen Handlungsfeldern und Themen des MiMi-Programms zur Verfügung.

Weitere wichtige Bausteine des MiMi-Programms sind Evaluations- und Forschungsmaßnahmen, Fortbildungsangebote für Fachkräfte öffentlicher Gesundheit, sowie Maßnahmen zur öffentlichen und politischen Kommunikation von Gesundheitskompetenz mit und für Migrantinnen und Migranten.

Die Vernetzung relevanter Akteurinnen und Akteure sowie das Prozessmanagement des MiMi-Programms stellen die größte Herausforderung dar. Mit dem MiMi-Programm wirkt das EMZ, ausgehend von seiner Bundeszentrale in Hannover und seinen Dependancen, dem MiMi Lab Berlin, dem Münchner MiMi-Integrationszentrum Bayern, dem Projektzentrum MiMi-Delta in Mannheim und dem Projektzentrum MiMi-Reha in Hamburg, in elf Bundesländern.


Welche Reichweiten hat das MiMi-Programm erzielt?

In den letzten 15 Jahren wurden gemeinsam mit über 400 Kooperationspartnerinnen und -partnern mehr als 2.800 Mediatorinnen und Mediatoren an über 70 Projektstandorten ausgebildet und 15.200 Gruppenveranstaltungen in 55 Sprachen und Dialekten durchgeführt, die von mehr als 200.000 Migrantinnen und Migranten besucht wurden. Zählt man die rund 940.000 verteilten Gesundheitsratgeber hinzu, wurden insgesamt fast 1.2 Mio Begünstigte erreicht. Wir haben auch MiMi-Projekte an zahlreichen Standorten in Österreich, Dänemark, Belgien oder der Türkei durchgeführt, die in diesen Zahlen nicht berücksichtigt sind.

Das EMZ kann im Rahmen seiner Arbeit auf weitreichende wissenschaftliche Kooperation und Unterstützung von Hochschuleinrichtungen im In- und Ausland bauen. Hierzu zählen u. a. die Bevölkerungsmedizin der Medizinische Hochschule Hannover, mit der ein Forschungsprojekt im Rahmen des Programms zur MiMi-Suchtprävention durchgeführt wurde. Das Institute for Transcultural Health Sciences der Dualen Hochschule Baden-Württemberg begleitet und evaluiert unser, von der Bundesintegrationsbeauftragten gefördertes, bundesweites, MiMi-Programm zur Gewaltprävention und das Leibniz-Institut für Präventionsforschung an Universität Bremen ist für die Evaluation unseres MiMi-Programms zur Gesundheitsförderung in Deutschland zuständig, das vom Bundesministerium für Gesundheit unterstützt wird. Im Rahmen von EU-Projekten, darunter vom BIBB geförderte Erasmusmaßnahmen, kooperieren wir u. a. mit der Technischen Hochschule auf Zypern, der Universität von Valencia und der SAPIENZA Universität in Rom.

Die Evaluation und Qualitätssicherung unserer MiMi-Programme zur medizinischen Rehabilitation, die wir gemeinsam mit Deutschen Rentenversicherungen durchführen, werden durch gemeinsame Forschungsaktivtäten des EMZ mit dem Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung der Universität zu Lübeck gesichert.


Gemeinsam mit BVPG-Vorstandsmitglied Sieglinde Ludwig sind Sie im Beirat des DOSB-Projekts GeniAl (Gemeinsam bewegen – Gesund leben im Alter), das gesundheitspräventive Maßnahmen für ältere Migrantinnen und Migranten entwickeln und nachhaltig implementieren soll.

Wir unterstützen das Projekt GeniAl und den DOSB dabei, gesundheitsförderliche Maßnahmen für Seniorinnen und Senioren mit Migrationshintergrund weiterzuentwickeln. Es ist ein Kernvorhaben des Nationalen Aktionsplans Integration (NAP-I), das bis Ende 2023, gefördert durch das Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI), Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) umgesetzt werden soll.

Die große Herausforderung beim Thema Gesundheitsförderung und Gesundheitsvorsorge älterer Menschen mit Migrationshintergrund ist die Erreichbarkeit. Wir haben gemeinsam mit dem Kooperationsnetzwerk des Projekts festgestellt, dass mit konkreten Maßnahmen, die sich stark an den Interessen und Erfahrungen der Betroffenen orientieren und mit ihnen gemeinsam entwickelt werden – zum Beispiel gemeinsam „gesund“ zu kochen – die Zielgruppe am besten erreicht und motiviert werden kann.

Auch spielen geschlechterbezogene sensible Vorgehensweisen eine wichtige Rolle. Hier wird es von den Betroffen als weniger angenehm empfunden, und eher mit Scham erlebt, dass beispielsweise Männer das Training von Frauen übernehmen. Das mag auch bei der Mehrheitsbevölkerung vorkommen, ist aber bei einem viel größeren Anteil der migrantischen Bevölkerung festzustellen.

Es hat sich bei der Umsetzung der bisherigen Maßnahmen herausgestellt, dass in Strukturen des Sportwesen sehr effektive Zugänge zu Migrantinnen und Migranten möglich sind. In diesem Rahmen konnten beispielsweise für Frauen Informationsabende über Brustkrebs und für die Männer über Prostatakrebs organisiert werden, die auf großen Zuspruch trafen. Auch finden Seniorinnen, die meistes verwitwet und häufig sehr einsam sind, in diesen Zusammenhängen neue Freundschaften und treffen auf Menschen mit ähnlichen Interessen.

Das sind wichtige Entwicklungen für migrantische Seniorinnen und Senioren, denn der Sport selbst setzt schon seit Jahrzehnten erfolgreich Integrationsprogramme um und hat geeignete weitflächige Infrastrukturen.


Die Corona-Pandemie hat noch einmal deutlich gemacht, dass Nachholbedarf bei der Umsetzung einer transkulturell sensiblen Gesundheitsförderung besteht. Welche Lücken müssen geschlossen werden, damit Menschen mit Migrationshintergrund in ihren Lebenswelten besser erreicht werden können?

Gesundheit ist ein wesentlicher Schlüssel, um sich im Sozialgefüge zu bewegen und die eigenen Möglichkeiten nutzen und einbringen zu können. Dies gilt in verstärktem Maße für Menschen mit Migrationshintergrund. Damit sie gesund leben oder sich im Bedarfsfall kompetent und sicher im Versorgungssystem bewegen können, benötigen sie ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz.

Wichtigstes Ziel einer transkulturell sensiblen Gesundheitsförderung ist es deshalb, die Lebensbedingungen, Bedarfe und Interessen der migrantischen Bevölkerung in das eigene institutionelle und professionelle Handeln zu inkludieren. Dies bedeutet, dass in allen Angeboten gesundheitlicher Regelversorgung sprachliche, soziale und kulturelle Unterschiede in ihrer ganzen Vielfältigkeit angemessen berücksichtigt werden. Auf der Basis von Erfahrungen in Zeiten der Pandemie gilt dies nicht nur für die bisherigen analogen, sondern zunehmend auch für neuen digitalen Zugangswege.


Wie gelingt eine transkulturell sensible Gesundheitsförderung in der Praxis?

Ein transkulturell sensibler und kompetenter Umgang mit Migrantinnen und Migranten sowie Geflüchteten kann beispielsweise durch Weiterbildungen des Personals oder durch den konzeptionell und finanziell gesicherten Einsatz von versierten Gemeindedolmetscherinnen und -dolmetschern gesichert werden.

Die zunehmende kulturelle Diversität der Bevölkerung sollte sich in der Personalzusammensetzung des Gesundheitswesens widerspiegeln. Hierfür wird mehr Personal mit Migrationshintergrund als bisher und ein entsprechendes „Diversity Management“ beziehungsweise transkulturelle Personalentwicklung benötigt.

Ein bewährter, zugehender Weg die Gesundheitskompetenz der Migrantinnen und Migranten zu stärken und sie für Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention zu erreichen, ist die Ausbildung von Gesundheitsmediatorinnen und -mediatoren für die muttersprachliche Informationsvermittlung in den migrantischen Lebenswelten (Transkultureller Setting-Ansatz). Die „dienstältesten“ und einzigen bundesweiten Angebote sind im MiMi-Programm des Ethno-Medizinischen Zentrum zusammengefasst. Es sind jedoch viele weitere gute Projekte auf regionaler Ebene entstanden, so beispielsweise mit Mediator:innen, „Lots:innen“, „Stadtteilmüttern“ oder „Gesundheitsmangerinnen“, die zu verschiedensten Gesundheitsthemen in migrantischen Communities wirken.

Letztlich gilt es, sensibel dafür zu sein, Migration als „Normalfall mit speziellen Herausforderungen und Potentialen“ und nicht als „defizitäre Sonderform der Lebensgestaltung“ zu begreifen. Die Förderung der transkulturellen Gesundheitskompetenz in den migrantischen Communities und die Sicherstellung kompetenter transkulturell sensibler Angebote der Gesundheitsförderung erfolgt idealerweise nicht nur für, sondern im partnerschaftlichen Zusammenwirken mit Migrantinnen und nach Möglichkeit auch mit deren Selbstorganisationen. Wie sagt man so schön: „Der Weg ist das Ziel!“


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

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Ramazan Salman | Diplom-Sozialwissenschaftler, seit 1992 Geschäftsführer des Ethno-Medizinischen Zentrums e.V., Erfinder der MiMi-Integrationstechnologie. 2022 Verleihung der „Europamedaille“ des Landes Bayern für die Verdienste zur Gesundheit in Europa. Seit 2017 Mitglied des Global Future Council des World Economic Forum. 2015 vom European Forum zum „Pionier des Europäischen Gesundheitswesen“ ernannt. Träger des Bundesverdienstkreuzes. Mitglied im Editorial Board des WHO-Newsletters „Migration and Health“. Herausgeber zahlreicher Bücher zu Migration, Gesundheit und Integration.

Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Gesundheitskompetenz„Es gibt viel Verbesserungspotenzial im Bereich der Gesundheitskompetenz“

Wie steht es um die bewegungs-, ernährungs- und suchtbezogene Gesundheitskompetenz in Deutschland? Antworten darauf geben die BVPG-Vorstandsmitglieder Christine Kreider, Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS), Dr. Andrea Lambeck, BerufsVerband Oecotrophologie e.V. (VDOE) und Dr. Mischa Kläber, Deutscher Olympischer Sportbund e.V. (DOSB).

Bewegungsmangel, Übergewicht/Adipositas und der Konsum von Suchtmitteln nehmen zu. Die Pandemie hat die Situation weiter verschärft. Wie steht es um bewegungs-, ernährungs- und suchtbezogene Gesundheitskompetenz in Deutschland?

Christine Kreider (DHS): Suchtprävention trägt mit ihrer vielfältigen Arbeit zur Entwicklung und Steigerung der Gesundheitskompetenz bei. Sie ist ein wichtiger Baustein, um die Bevölkerung vor suchtbezogenen Schäden zu schützen. Abhängigkeitserkrankungen und riskante Nutzungsmuster entwickeln sich meist schleichend, über einen langen Zeitraum. Insofern ist es schwierig, zum jetzigen Zeitpunkt schon Aussagen hinsichtlich der Pandemie zu treffen. Die Corona-Krise ist für wissenschaftliche Untersuchungen in diesem Feld vergleichsweise „jung“.

Wie verschiedene Studien zeigen, nimmt eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Coronapandemie als belastend wahr. Die Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit hängt eng mit den zu den unterschiedlichen Zeitpunkten geltenden Maßnahmen zusammen. Sie hat sich also im Verlauf der letzten beiden „Corona“-Jahre durchaus verändert.

Als Konsequenz liegt die These nahe, dass auch Suchtmittel vermehrt als Strategien genutzt werden, um mit diesen sich ständig ändernden, psychosozialen Belastungen umzugehen. Gerade vulnerable Gruppen sind besonders gefährdet, durch die Pandemie eine Konsumstörung oder ein abhängiges Verhalten zu entwickeln – das belegen die aktuell vorliegenden Daten. Diesen Zielgruppen müssen wir uns mit unserer Arbeit nun mehr denn je widmen!

Dr. Andrea Lambeck (VDOE): Ernährung und Gesundheit sind Trendthemen – und das nicht erst seit der Pandemie. Das Interesse rund um Ernährung und Lebensmittel hat in den letzten Dekaden kontinuierlich zugenommen und wurde durch die Pandemie noch verstärkt – insbesondere das Bewusstsein für die Herkunft sowie die Verbreitung und Zubereitung von Lebensmitteln. Auch die Frage, ob und wie eine gesundheitsfördernde Ernährung oder ein guter Ernährungszustand vor einer Infektion schützen oder den Verlauf einer Erkrankung beeinflussen, bewegt seither viele Menschen.

Das starke Interesse an Ernährung und Lebensmitteln führt dazu, dass zu diesen Themen extrem viel kommuniziert wird, sowohl in den klassischen Medien als auch in Social Media. Viele Menschen nehmen für sich in Anspruch, hier kompetent zu sein und kommunizieren als teilweise selbst ernannte „Expertinnen und Experten“. Besonders viel Aufmerksamkeit erlangen jedoch oftmals gerade die Influencerinnen und Influencer, die wenig fundierte, dafür aber unterhaltsame Informationen präsentieren. Folglich differieren die Informationen zu Ernährung und Gesundheit von wissenschaftsbasiert bis weltanschaulich-orientiert.

Die ernährungsbezogene Gesundheitskompetenz variiert dementsprechend, ebenso das ernährungsbezogene Gesundheitsverhalten. Folglich haben auch die ernährungsmitbedingten Gesundheitsprobleme/Erkrankungen eher zu- als abgenommen.

Dr. Mischa Kläber (DOSB): Das seit Jahren bestehende Problem des zunehmenden Bewegungsmangels hat sich durch die Corona-Pandemie zweifelsohne weiter zugespitzt. Diesbezüglich besteht absoluter Handlungsbedarf! Im ersten Corona-Jahr 2020 wurden allein bei Sportvereinen rund 800.000 Austritte verzeichnet, so viel wie noch nie. Auch das Deutsche Sportabzeichen legten im ersten Pandemiejahr lediglich 400.000 Sportbegeisterte ab. Im Vergleich zu den Vorjahren ist dies ein Rückgang von über 50 Prozent.

Insbesondere bei den größten Verlierern der Pandemie, bei den Kindern und Jugendlichen, brachen die Abnahmezahlen beim Sportabzeichen stark ein. Hier setzt die im letzten Jahr gestartete MOVE-Kampagne der Deutschen Sportjungend an, deren Ziel es ist, speziell Kinder und Jugendliche wieder oder auch neu für den Vereinssport zu gewinnen. Hinweisen möchte ich auch auf die kürzlich erschienen und flankierenden Informationsmaterialien des Bundesministeriums für Gesundheit zur Bewegungsförderung für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in den Lebenswelten Schule, Kindertagesstätte und Sportverein.


Über welche Strategien zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz können insbesondere vulnerable Zielgruppen erfolgreich erreicht werden?

Christine Kreider: Im Bereich der Suchtprävention ist es wichtig, fachlich fundierte Informationen zielgruppengerecht aufzubereiten und über entsprechende Kanäle zu streuen. Wir müssen die Zielgruppen dort abholen, wo sie sind und die Botschaften ansprechend und verständlich adressieren. Dazu gehört auch, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu informieren und entsprechende Materialien für ihre suchtpräventive Arbeit bereitzustellen.

Ein Beispiel: Die bundesweite Aktionswoche Alkohol bietet eine geeignete Plattform, um ganz unterschiedliche Zielgruppen für die Risiken des Alkoholkonsums zu sensibilisieren. Die Präventionskampagne findet vom 14. bis 22. Mai 2022 statt. Im Fokus steht die Sucht-Selbsthilfe unter der zentralen Frage: „Wie ist deine Beziehung zu Alkohol?“

Dr. Andrea Lambeck: Ernährung ist ein wichtiges Handlungsfeld im Bereich von Gesundheitsförderung und Prävention. Viele etablierte Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention konnten während der Pandemie jedoch nicht in gewohnter Form angeboten werden: Insbesondere die Maßnahmen in den Lebenswelten wie Kita, Schule, Betrieb, Kommune wurden eingeschränkt. Seit jeher schwer zu erreichende Zielgruppen waren somit noch schwerer zu erreichen. Somit hat die Pandemie die gesundheitliche Chancengleichheit auch in dieser Hinsicht negativ beeinflusst.

Die Kommunikation von Ernährungsinformationen über Massenmedien konnte dieses Defizit nicht ausgleichen, auch weil die transportierten Informationen nur zum Teil einer Verbesserung der Gesundheitskompetenz dienen. Um die Chancen der Medien zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz zu nutzen, ist ein stärkeres Bewusstsein bei den Verantwortlichen erforderlich: Bei der Auswahl von Expertinnen und Experten muss auf ein Mindestmaß an Qualifikation geachtet werden, um die Seriosität und Glaubwürdigkeit der verbreiteten Informationen sicherzustellen!

Dr. Mischa Kläber: Vor dem Hintergrund der gesundheitlichen Chancengleichheit bieten die Strukturen des gemeinnützigen (Breiten)Sports besonders gute Bedingungen dafür, Bewegungsangebote für alle zu schaffen und zugänglich zu machen. Denn um vulnerable Gruppen zu erreichen, braucht es eine zielgruppenspezifische Ansprache und Angebote, die sich an den Besonderheiten und Bedürfnisse der Zielgruppe orientieren.

Seit mehr als 30 Jahren setzt sich der DOSB mit dem Bundesprogramm Integration durch Sport“, das mit jährlich rund 10 Millionen Euro durch den Bund gefördert wird, für Integration in und durch Sport ein. Im Bereich der vulnerablen Gruppen gibt es jedoch großen Bedarf, zusätzliche gesundheitsfördernde Maßnahmen zu erarbeiten.

Hervorzuheben ist beipielsweise, dass wir als DOSB über das „GeniAl-Projekt: Gemeinsam bewegen – Gesund leben im Alter“(gefördert von Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) und Bundesministerium für Gesundheit (BMG) modellhaft Zugangswege und Angebote für ältere Menschen mit Einwanderungsgeschichte mit einer Projektlaufzeit bis Ende 2023 entwickeln, erproben und evaluieren können. Der Kerngedanke dabei ist eine Verbindung aus niederschwelligen Bewegungsangeboten in der Lebenswelt und der Zusammenarbeit mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus der Peer-Group.


Welche wirksamen, evaluierten Ansätze zur Stärkung der Gesundheitskompetenz gibt es?

Christine Kreider: Es ist erwiesen, dass ein Policy-Mix aus verhaltens- und verhältnispräventiven Maßnahmen am wirksamsten ist, um gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Schäden vorzubeugen, die mit dem Gebrauch legaler und illegaler Suchtstoffe sowie den Folgen süchtigen Verhaltens verbunden sind.

Wirksame, evaluierte Maßnahmen finden sich beispielsweise in der Datenbank der Grünen Liste Prävention. Es gibt eine Vielzahl empfehlenswerter Ansätze, wie etwa „MOVE – Motivierende Kurzintervention bei konsumierenden Jugendlichen“ oder das „SKOLL Selbstkontrolltraining – Ein suchtmittelübergreifender Ansatz der Prävention und Frühintervention für Jugendliche und Erwachsene“.

Dr. Andrea Lambeck: Insbesondere niederschwellige Angebote in den Lebenswelten und eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention haben sich als wirksam bewährt, werden jedoch häufig durch gegenläufige Informationen zum Zusammenhang von Ernährung/Lebensmitteln und Gesundheit konterkariert. Insofern erscheint Ernährungsbildung, insbesondere in Kita und Schule, als ein nachhaltig erfolgreicher Ansatz zur Vermittlung von Ernährungskompetenz.

Dr. Mischa Kläber: An dieser Stelle ist das Qualitätssiegel SPORT PRO GESUNDHEIT von Bundesärztekammer und DOSB zu nennen, welches im Rahmen von Präventionskursen die bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz in den Vordergrund stellt. Das Siegel wird seit mehr als 20 Jahren erfolgreich umgesetzt, ist in weiten Teilen von den Krankenkassen zur Kostenübernahme zertifiziert und hat schon viele tausende Menschen erreicht, die Neu- oder Wiedereinsteigende in Sportvereinen werden möchten.

Daneben bietet das „Rezept für Bewegung“ von Bundesärztekammer, Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) und DOSB – seit kurzem auch unterstützt durch die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) – die Möglichkeit, vulnerable Zielgruppen auch über ärztliche Beratung zu erreichen.

Spannend ist auch ein weiterer Ansatz, der sich im Rahmen des Projekts „Im Alter IN FORM“ der BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e.V. und des Deutschen Turner-Bunds (DTB) zeigt: dieser bietet die Möglichkeit einer Fortbildung zu Bewegungstreffleitenden, um mit älteren Menschen einfache Bewegungsübungen auszuführen sowie die Gesundheitskompetenz auch in Bezug auf die Ernährung zu stärken.

Wird das Setting Kommune betrachtet, so kann beispielsweise durch attraktive und niederschwellig Angebote das Bewegungsverhalten gefördert werden – wie bspw. beim DOSB-Projekt „Platzwechsel. Bewege Dein Leben“. Kommunen sowie Städte und Stadtteile können bewegungsfreundliche Strukturen schaffen, um so den Menschen in ihrem gewohnten Lebensumfeld einfache Möglichkeiten zu körperlicher Aktivität zu bieten. Nichtsdestotrotz müssen bestehende Programme und Projekte fortlaufend evaluiert, als auch neue implementiert und ebenfalls wissenschaftlich begleitet werden.


Welche Strukturverbesserungen sind in den Bereichen Bewegung, Ernährung, Sucht notwendig, um eine Stärkung/Verbesserung der Gesundheitskompetenz zu erzielen?

Christine Kreider: Strukturelle Maßnahmen sind eine zentrale Säule der Suchtprävention. Da gibt es gerade in Deutschland noch viel Verbesserungspotenzial! Wenn wir im Bereich der Suchthilfe über Verhältnisprävention sprechen, meinen wir Rahmenbedingungen, die folgende Ziele erreichen:

  • Suchtmittelkonsum legaler oder illegaler Substanzen und problematische Verhaltensweisen vermeiden oder weitestgehend hinauszögern
  • Früherkennung und -intervention bei riskanten Konsum- und Verhaltensmustern
  • Missbrauch und Abhängigkeiten reduzieren

Verhältnisprävention gewährleistet dabei das Funktionieren verhaltensbezogener Maßnahmen und sorgt für deren Nachhaltigkeit. In der Suchtprävention gibt es unterschiedliche „Stellschrauben“. Exemplarisch lassen sie sich am Beispiel Alkohol skizzieren – dem in Deutschland am meisten konsumierten Suchtstoff:

  1. Preiserhöhung: Der Preis für alkoholische Getränke beeinflusst den Gesamtkonsum in der Bevölkerung und damit auch das Ausmaß alkoholbezogener Probleme. Preispolitische Maßnahmen zeigen insbesondere bei Jugendlichen eine messbare Veränderung. Auch bei denjenigen, die häufig Alkohol konsumieren, ist dieser Effekt messbar.
  2. Regulierung des Alkoholkonsums im öffentlichen Raum: Im öffentlichen Raum Alkohol zu trinken, ist auf geeignete Räume/Plätze zu beschränken. Belästigungen, Schädigungen, Bedrohungen und Gewaltanwendungen gegen Personen und Sachen wird so vorgebeugt.
  3. Verfügbarkeit einschränken: Alkohol sollte nur hochschwellig zugänglich sein. Hierzu ist das Angebot in den Verkaufsstellen anzupassen: die Abgabe alkoholischer und nicht-alkoholischer Getränke ist zu trennen. Auch die 24-Stunden-Verfügbarkeit ist deutlich einzuschränken. Hiermit wird u.a. ein weiterer und wichtiger Beitrag zur Gewaltprävention geleistet.
  4. Werbung und Sponsoring verbieten: Das Marketing für Alkoholprodukte darf Minderjährige nicht erreichen. Untersuchungen zeigen, dass die Bewerbung alkoholischer Getränke einen messbaren Einfluss auf den Konsum von Kindern und Jugendlichen hat. Die Werbung für Alkohol, z.B. über Banner- und Trikotwerbung, ist in jedem Fall von Sportereignissen zu trennen!

Dr. Andrea Lambeck: Problematisch ist, dass sich im Bereich des Handlungsfeldes Ernährung innerhalb der Gesundheitsförderung und Prävention, aber auch darüber hinaus bis hin zur Ernährungstherapie, unterschiedlichste Akteure betätigen und nur ein Teil über die erforderliche fachliche und methodische Kompetenz verfügt. Es gibt in Deutschland bis heute keinen Schutz der Berufsbezeichnung „Ernährungsberatung“, so dass jede beziehungsweise jeder Dienstleistungen in diesem Bereich anbieten kann.

Zur Strukturverbesserung sind zum einen eine Qualitätssicherung für die kommunizierten Ernährungsinformationen und zum anderen ein Fokus auf qualifizierte Fachkräfte als Absender von Ernährungsinformationen erforderlich. Im Sinne des gesundheitlichen Verbraucherschutzes muss die Qualifikation der Anbietenden ebenso wie die Qualität der jeweiligen Ernährungsinformationen sichtbar und leicht erkennbar sein. Der Zugang zu qualitätsgesicherten Informationen beziehungsweise zu qualifizierten Angeboten der Gesundheitsförderung und Prävention muss allen Menschen möglich sein! Dies gilt insbesondere, da durch Missverständnisse in der Ernährungskommunikation oder „falsche“ Empfehlungen gesundheitliche Nachteile entstehen können.

Dr. Mischa Kläber: Für die Zukunft braucht es für das Themenfeld (Breiten)Sport, Bewegung und Gesundheit eine bundesweite Koordinierungsstelle, die die Kooperation, Koordination sowie Vernetzung aller relevanten Partnerinnen und Partner ausbauen und stärken soll.

Als gutes Beispiel sei hier die Bearbeitung des Themas Ernährung genannt, welches auf Bundesebene eine klare Verantwortung hat. Mit dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) findet diese Thematik eine ministeriale Heimat und wird im Rahmen von IN FORM fachgerecht finanziell und personell bearbeitet. Zudem gibt es das Bundeszentrum für Ernährung, das die Bevölkerung durch strukturierte Öffentlichkeitsarbeit aufklärt und informiert. Vergleichbares braucht es auch für (Breiten)Sport und Bewegung, um die breite Bevölkerung anzusprechen und die Relevanz in die Öffentlichkeit zu tragen, etwa in Form eines Bundeszentrums für Bewegung.

Neben einer Koordinierungsstelle braucht es zudem eine klare Zielperspektive in Form eines nationalen Gesundheitsziels „Bewegungsmangel reduzieren“. Die weitreichenden Folgen der Pandemie hinsichtlich Bewegung, Ernährung und Sucht gilt es jetzt dringend in einem breiten Bündnis aus Politik, gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren und der Zivilgesellschaft anzugehen!


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

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Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitskompetenz:

Interview mit Prof. Dr. Jürgen Pelikan, Leiter der internationalen Gesundheitskompetenz-Studie HLS19.

Interview mit den (Health Literacy Survey) HLS-GER 2-Studienleiterinnen Prof. Dr. Doris Schaeffer und Dr. Eva-Maria Berens vom Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) der Universität Bielefeld. 

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Christine Kreider | Seit 2018 Referentin für Prävention bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS); seit 2015 bei der DHS (Tätigkeitsschwerpunkte: Suchtprävention und Frühintervention zum Thema „Alkohol“, Verhältnisprävention, Schutz vulnerabler Zielgruppen und geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und Prävention); Studium der Health Communication (B. Sc.) und Public Health (M. Sc.). Seit 2020 Vorstandsmitglied der BVPG.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) ist die zentrale Dachorganisation der deutschen Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe. Nahezu alle Träger der ambulanten Suchtberatung und -behandlung, der stationären Versorgung und der Sucht-Selbsthilfe sind in der DHS vertreten. Gemeinsam mit ihren Mitgliedsverbänden bildet die DHS ein starkes und qualifiziertes Netzwerk im Bereich der Suchtprävention, Suchtberatung, Suchtbehandlung und Sucht-Selbsthilfe. 

Dr. Andrea Lambeck | Seit 2018 des Geschäftsführerin des BerufsVerbandes Oecotrophologie e.V. (VDOE). Arbeitsschwerpunkte: Kommunikation, Management im Bereich Ernährung und Gesundheit. Ehrenämter: Sprecherin des Vorstands des 5 am Tag e. V. Seit 2020 Vorstandsmitglied der BVPG.

Der BerufsVerband Oecotrophologie e.V. (VDOE) setzt sich als berufspolitische Vertretung für alle ein, die Oecotrophologie, Ernährungs-, Haushalts-, Lebensmittelwissenschaften oder ein vergleichbares Studium abgeschlossen haben oder studieren. Derzeit repräsentiert der VDOE rund 4.000 Mitglieder. Vorrangige Ziele sind die Erschließung von Arbeitsgebieten für die Berufsgruppe sowie die Sicherung und Förderung ihres qualifikationsgerechten Einsatzes.

Dr. Mischa Kläber | Seit 2012 Ressortleiter für Präventionspolitik und Gesundheitsmanagement beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Lehrbeauftragter für die Themenfelder Sportorganisationen sowie Sport und Gesundheit am Institut für Sportwissenschaft der TU Darmstadt. 2009 – 2012 Wissenschaftlicher Assistent (Habilitand) an der TU Darmstadt, 2006 – 2009 Promotions­stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. 2009 Promotion in der Sportwissenschaft. Seit 2020 Vorstandsmitglied der BVPG.

Der Deutsche Olympische Sportbund e.V. (DOSB) mit Sitz in Frankfurt am Main ist ein eingetragener Verein (e.V.) und die größte Personenvereinigung Deutschlands. Mit seinen 100 Mitgliedsorganisationen, in denen über 27 Millionen Mitglieder in rund 90.000 Sportvereinen organisiert sind, ist der DOSB der größte Bewegungsanbieter in Deutschland und versteht sich zugleich als „Anwalt für Bewegung“. Daher bringt sich der DOSB seit Jahrzehnten in entsprechenden Netzwerken und Bundesgremien ein.