Gastbeitrag von Dr. Martin Danner„Inklusives Gesundheitssystem schaffen – Barrieren abbauen!“

Die BAG SELBSTHILFE e.V. als Dachverband der Selbsthilfeorganisationen behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen setzt sich für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung behinderter und chronisch kranker Menschen ein. Gastbeitrag von Dr. Martin Danner, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft.

Nicht ohne Grund fordert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für alle Menschen ein Recht auf sichere und qualitativ hochwertige Versorgung. In Deutschland haben zwar theoretisch alle Menschen Zugang zur gesundheitlichen Versorgung, in der Praxis gibt es aber eine Vielzahl von Hindernissen für manche Patientengruppen.

Knapp 10 Prozent (9,4 Prozent) der Bevölkerung in Deutschland leben mit einer Schwerbehinderung; ihre Anzahl wird voraussichtlich auch in Zukunft in einer älter werdenden und wachsenden Gesellschaft zunehmen.

Das Gesundheitssystem ist darauf nach wie vor nicht eingestellt: Denn es stellt Menschen mit Behinderungen noch immer vor viele Herausforderungen: So sind zahlreiche Arztpraxen oder sonstige Gesundheitsdienstleister nicht barrierefrei, was die Versorgung der Betroffenen erheblich einschränkt; im Ergebnis ist die freie Arztwahl für Menschen mit Behinderungen nicht vorhanden. Noch schlimmer ist es oft in ländlichen Gebieten: Hier finden Betroffene inzwischen manchmal gar keine Arztpraxis mehr, die barrierefrei ausgestattet ist. Dabei fehlen nicht nur bauliche Hilfestellungen wie Rampen und Fahrstühle, sondern auch andere Unterstützungsmaßnahmen wie etwa Orientierungssysteme für blinde und sehbehinderte Menschen und barrierefreie Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere die Verwendung von Leichter Sprache und/oder Piktogrammen.

Besonders schwierig ist die Situation in der Gynäkologie; hier hat die Unterversorgung zur Folge, dass Frauen mit Behinderungen kaum Praxen finden, in denen sie beispielsweise die ihnen zustehende Krebsvorsorge in Anspruch nehmen können, da keine entsprechenden barrierefreien Untersuchungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die wenigen Spezialambulanzen, die sich aus der Not herausgebildet haben, schließen teilweise oder haben die entsprechenden Untersuchungsgeräte nicht mehr zur Verfügung.

Zudem sind viele Ärztinnen und Ärzte leider zurückhaltend bezüglich der Behandlung von Menschen mit Behinderung, da die Behandlung insgesamt häufig mehr Zeit in Anspruch nimmt. Hier ist es dringend erforderlich, dass dieser erhöhte Zeitaufwand besser im einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) abgebildet wird; erste Ansätze dazu gibt es bereits, diese reichen aber noch nicht aus.

Dabei ist die Bundesrepublik Deutschland längst zur Herstellung der Barrierefreiheit vertraglich gebunden: In Artikel 9 Absatz 1 verpflichtet die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ihre Unterzeichnerstaaten, geeignete Maßnahmen zu treffen, um für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen den Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, zu Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen oder für sie bereitgestellt werden zu gewährleisten.

Durch die Ratifizierung von Bundestag und Bundesrat ist die Konvention im Jahr 2009 zu geltendem deutschen Recht geworden. Damit ist es Aufgabe des Staates, diese in der UN-Behindertenrechtskonventionen formulierten Rechte so umzusetzen, dass sie auch tatsächlich im Alltag gelebt werden und bei den Betroffenen ankommen. Hier gibt es noch viel zu tun!


Lesen Sie dazu auch:

BVPG-Interview mit Pauliina Nykänen-Rettaroli, Senior Technical Lead and Unit Head on Human Rights, Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Weltgesundheitstag 2024: „My health, my right – right to health for everyone.”

BVPG-Interview mit Kristine Soerensen, Präsidentin der International Health Literacy Association and chair of Health Literacy Europe: „Health literacy champions are in demand!”

Möchten Sie über Neues und Wissenswertes zu Prävention und Gesundheitsförderung auf dem Laufenden gehalten werden? Hier können Sie unseren monatlich erscheinenden Newsletter bestellen.

Dr. Martin Danner | Jurist und Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE e.V. Nach seinem Studium in Heidelberg hat er einige Jahre als Rechtsanwalt mit der Spezialisierung im Gesundheitsrecht gearbeitet, bevor er die Leitung des Referats Gesundheitspolitik und Selbsthilfeförderung der BAG SELBSTHILFE übernommen hat. Dr. Martin Danner ist Sprecher der Patientenvertretung beim Gemeinsamen Bundesausschuss.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE) ist die Vereinigung der Selbsthilfeverbände behinderter und chronisch kranker Menschen und ihrer Angehörigen in Deutschland.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt: GesundheitskompetenzGesundheitskompetenz im Kontext von „Behavioural and Cultural Insights“

Anlässlich der BVPG-Statuskonferenz „Gesundheitskompetenz fördern – Lebensqualität erhalten und verbessern“ sprechen wir mit Dr. Susanne Jordan und Prof. Dr. Julika Loss, beide Robert Koch-Institut (RKI), über Gesundheitskompetenz und den Ansatz „Behavioural and Cultural Insights (BCI)“ und darüber, wie sie für Prävention genutzt werden können.

Was ist eigentlich unter „Behavioural and Cultural Insights“ zu verstehen und was unterscheidet diesen Ansatz von der Gesundheitskompetenz?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) übersetzt den englischen Begriff „Behavioural and Cultural Insights“ wörtlich mit „verhaltensbezogene und kulturelle Erkenntnisse“. International und auch im deutschen Sprachraum wird das häufig mit BCI abgekürzt. Mit „Behavioural and Cultural Insights“ sind Erkenntnisse gemeint, die auf empirischer Evidenz aus ganz unterschiedlichen Disziplinen beruhen und erklären, wie Menschen in ihrem Alltag gesundheitsrelevante Entscheidung treffen, und was ihr Gesundheitsverhalten beeinflusst. BCI nutzt Forschung aus Wissenschaftsdisziplinen wie Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Ökonomie, Kommunikations-, Sport-, Ernährungs- oder Politikwissenschaften.

Der Ansatz „Behavioural and Cultural Insights“ dient der Entwicklung von gesundheitspolitischen Strategien und der Gesundheitskommunikation, wird aber auch bei der Planung von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung eingesetzt. Durch die Identifizierung von sowohl kontextuellen als auch individuellen Barrieren bzw. fördernden Faktoren sollen möglichst passgenaue und effektive Interventionen entwickelt werden. Daher wird auch die Einbindung der Zielgruppe in die Entwicklung von Maßnahmen so weit wie möglich angestrebt.

Bei „Gesundheitskompetenz“ handelt es sich hingegen um ein Konzept, das den Umgang mit Gesundheitsinformationen als Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen beschreibt. Im Englischen wird der Begriff „Health Literacy“ verwendet, der teilweise auch im deutschsprachigen Raum gebräuchlich ist. Gesundheitskompetenz ist ein multidimensionales Konstrukt, das kognitive, psychische, soziale und kontextuelle Aspekte umfasst. Gesundheitskompetenz ist kontextabhängig und wird daher als relationales Konzept bezeichnet.

Um Gesundheitskompetenz zu fördern, sollten Maßnahmen sowohl bei den individuellen Ressourcen, Fähigkeiten und Kenntnissen als auch bei den organisatorischen Strukturen ansetzen. Die Förderung von Gesundheitskompetenz soll auch zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens beitragen, wobei Maßnahmen der Gesundheitsförderung eingesetzt werden können. Gesundheitskompetenz gilt laut der Weltgesundheitsorganisation als wichtige Determinante von Gesundheit.

Der zentrale Unterschied zwischen den beiden Ansätzen besteht darin, dass es sich bei Gesundheitskompetenz um ein konkretes theoretisches Konstrukt handelt, bei dem das Thema „Umgang mit Gesundheitsinformationen“ im Vordergrund steht. Das methodische Vorgehen zur Erfassung und Förderung von Gesundheitskompetenz ist nicht Teil des Konstruktes Gesundheitskompetenz. Anders verhält es sich bei „Behavioural and Cultural Insights“. Bei BCI wird die interdisziplinäre Perspektive ausdrücklich als zentral für den Ansatz betrachtet, sie steht bereits im Namen des Ansatzes – und damit geht auch Methodenvielfalt einher. Zwar lässt sich auch bei den vorhandenen Studien zur Gesundheitskompetenz eine Methodenvielfalt beobachten, allerdings ist der Anteil an quantitativen Studienmethoden größer als der von qualitativen Studien. Begleitet ist die Gesundheitskompetenzforschung ohnehin von einer wissenschaftlichen Diskussion, wie Gesundheitskompetenz am besten gemessen werden sollte.


Können Sie noch weitere Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten von Gesundheitskompetenz und „Behavioural and Cultural Insights“ benennen?

Eine Gemeinsamkeit beider Ansätze ist die Adressierung gesundheitsrelevanter Entscheidungen, die bewusst oder unbewusst getroffen werden, wobei die unbewussten Entscheidungen, zum Beispiel impulsive oder emotionale Entscheidungen, besonders im BCI-Ansatz verfolgt werden. Der thematische Fokus von „Behavioural and Cultural Insights“ ist im Vergleich zur Gesundheitskompetenz wesentlich breiter. BCI beschäftigt sich mit ganz unterschiedlichen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, während die Gesundheitskompetenzforschung in der Regel auf den Umgang mit Gesundheitsinformationen fokussiert.

Obwohl sowohl Gesundheitskompetenz als auch BCI den Kontext bzw. die Verhältnisse als relevant für Maßnahmen benennen, geraten diese mitunter aus dem Blick, und Interventionen werden vorrangig auf das Individuum ausgerichtet. An sich beinhalten beide Ansätze Kontextfaktoren bzw. Bedingungen vor Ort schon in ihrer Definition: Gesundheitskompetenz ist als ein relationales Konzept definiert, das kontextabhängig ist, weshalb sich die Forschung zur Gesundheitskompetenz zunehmend mit der organisationalen Gesundheitskompetenz beschäftigt. Diese adressiert organisatorische Strukturen und die Vermittlung von Gesundheitskompetenz in Einrichtungen des Gesundheitswesens, aber auch in den Lebenswelten, zum Beispiel Schulen. Und auch der BCI-Ansatz trägt das „Kulturelle“ im Begriff, als Hinweis darauf, dass gesellschaftliche und Kontextbedingungen vor Ort zu berücksichtigen sind, um Evidenz zu generieren bzw. wirksame Interventionen zu entwickeln. Bei beiden Ansätzen ist es wichtig, sich bei der Analyse und der Maßnahmenentwicklung nicht nur auf die individuellen Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu konzentrieren, sondern auch die Verhältnisse und Kontextbedingungen bis hin zu den Determinanten von Gesundheit („causes of the causes“) einzubeziehen.


Welches Potenzial sehen Sie für die Förderung von Gesundheitskompetenz durch „Behavioural and Cultural Insights“?

Durch „Behavioural and Cultural Insights“ sollen Maßnahmen und Interventionen wirksamer und passgenauer gestaltet werden, und Gesundheitskompetenz ist dabei ein bedeutsamer zu berücksichtigender Faktor. BCI hat so das Potenzial, Gesundheitskompetenz in umfassende Studien zu Prävention- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen zu integrieren. Die Förderung von Gesundheitskompetenz kann damit zu wirksameren Maßnahmen in der Prävention und Gesundheitsförderung beitragen.

Die WHO weist in ihren Papieren zu „Behavioural and Cultural Insights“ ausdrücklich auf Gesundheitskompetenz hin. In der Gesundheitskompetenz sieht sie einen nachweislich einflussreichen Faktor auf gesundheitsbezogene Verhaltensweisen, der deshalb bei Maßnahmen, die auf soziale und verhaltensbezogene Veränderungen abzielen, berücksichtigt werden sollte.


Wie sieht das konkret aus?

Um Evidenz für eine Maßnahmenentwicklung im Kontext von BCI zu gewinnen, schlägt die Weltgesundheitsorganisation vor, sich an dem sogenannten COM-B-Modell zu orientieren. Dieses wurde von Susan Michie und ihrem Team am University College London entwickelt und ist bereits vielfach erprobt. Das aus dem Englischen stammende Akronym COM-B setzt sich aus den vier Anfangsbuchstaben der zu untersuchenden Bereiche zusammen. Dabei steht das „B“ für „Behaviour“, das zu untersuchende Verhalten, das von drei Bereichen beeinflusst wird, „C“ für „Capability“, die Fähigkeiten, „O“ für „Opportunity“, die Möglichkeiten und „M“ für „Motivation“, die Motivation. Dahinter steht die Annahme, dass verschiedene kognitive und körperliche Fähigkeiten ein Verhalten ebenso beeinflussen wie die Möglichkeiten, die sich aus dem sozialen Kontext und der physischen Umgebung ergeben, sowie auch der bewussten und unbewussten Motivation.

Im COM-B-Modell ist Gesundheitskompetenz demnach ein Aspekt aus dem Bereich der Fähigkeiten, nämlich die Fähigkeit, mit Gesundheitsinformationen umzugehen. Die Analyse und Förderung von Gesundheitskompetenz können dann beispielsweise Verhaltensweisen wie gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung unterstützen, aber auch die Inanspruchnahme bestimmter Leistungen im Gesundheitswesen. Die Zuordnung zum Bereich „Fähigkeiten“ ist aber nicht so eindeutig, denn wenn die aktuellen umfassenden Definitionen von Gesundheitskompetenz herangezogen werden, dann beinhaltet Gesundheitskompetenz auch den motivationalen Aspekt, ein Bereich, der im COM-B-Modell einen weiteren eigenständigen Faktor darstellt. Diese Überschneidung sollte in den Analysen entsprechend berücksichtigt werden und nicht nur auf die Fähigkeiten fokussiert werden.

Des Weiteren ist zu überlegen, inwiefern die multidisziplinären Perspektiven und Methoden von „Behavioural and Cultural Insights“ bei der Entwicklung und der Überprüfung von konkreten Maßnahmen zur Förderung von Gesundheitskompetenz hilfreich sein können. BCI-Studien könnten gezielt Barrieren und Förderfaktoren eines gesundheitskompetenten Verhaltens einer bestimmten Gruppe untersuchen und dazu beitragen, gesundheitskompetenzförderndes Verhalten besser zu verstehen.


Was ist Ihrer Einschätzung nach zu tun, um Gesundheitskompetenz in Deutschland zu stärken? Wie kann der Ansatz „Behavioural and Cultural Insights“ dazu einen Beitrag leisten, auch im Hinblick auf die Erreichbarkeit sozial benachteiligter Gruppen?

Um Gesundheitskompetenz in Deutschland zu stärken, sollte in ganz vielen gesellschaftlichen Bereichen angesetzt werden. Diese sind ausführlich im „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ (NAP) beschrieben. In Bezug auf Ihre Frage ist hervorzuheben, dass es nicht nur um Maßnahmen im Gesundheitswesen geht, sondern es auch um die Förderung von Gesundheitskompetenz in den Lebenswelten gehen muss, und hier spielen Prävention und Gesundheitsförderung eine zentrale Rolle. Der „NAP“ benennt ausdrücklich als ein zentrales Umsetzungsprinzip: „soziale und gesundheitliche Ungleichheit verringern“. 

Die Herangehensweise von „Behavioural and Cultural Insights“ kann die Perspektiven der Gesundheitskompetenzforschung erweitern – gerade, weil BCI-Studien unbewusste gesundheitsrelevante Entscheidungen mit in den Blick nehmen. Denn BCI legt einen Schwerpunkt auf die aus der Prävention und Gesundheitsförderung bekannte Beobachtung, dass Menschen trotz vorhandenen Wissens ihr Verhalten nicht ändern (der sogenannte “intention-action-gap“). Dies liegt häufig an strukturellen Barrieren in der Umgebung, zum Beispiel in den Lebenswelten. Diese Barrieren sind oftmals noch nicht identifiziert oder werden noch nicht systematisch bei der Maßnahmengestaltung berücksichtigt.

Da BCI die Beteiligung von Betroffenengruppen bei der Entwicklung von Maßnahmen ausdrücklich betont, kann dies zu einer Stärkung partizipativer Methoden in der Gesundheitsförderung und Prävention führen. Die Stärkung partizipativer Methoden ist gerade im Hinblick auf die Verringerung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit eine Herangehensweise, die als vielversprechend auch im Kontext der Gesundheitskompetenzförderung gilt. Die Bevölkerung sollte dabei am besten nicht erst bei der konkreten Strategieentwicklung zur Gesundheitskompetenz, sondern von Anfang in den Gesundheitskompetenz-Studien, beteiligt werden.

Insgesamt sehen wir eine gegenseitige Ergänzung und Bereicherung von BCI und Gesundheitskompetenz mit dem Potenzial, Prävention und Gesundheitsförderung effektiver und zielgerichteter zu gestalten.

Die Fragen stellte Simone Köser, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).


Lesen Sie dazu auch:

Weitere Informationen zur BVPG-Statuskonferenz „Gesundheitskompetenz fördern – Lebensqualität erhalten und verbessern“ finden Sie hier.

BVPG-Interview mit Dr. Lennert Griese, Gesundheitswissenschaftler an der Universität Bielefeld mit Forschungsschwerpunkt Gesundheitskompetenz. Er ist Teil des WHO Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL) und des Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (NAP): „Die Gesundheitskompetenz ist ungleich in der Bevölkerung verteilt.”

BVPG-Interview mit Kristine Soerensen, Präsidentin der International Health Literacy Association and chair of Health Literacy Europe: „Health literacy champions are in demand!”

BVPG-Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann, Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin und Mit-Initiator des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz (NAP): „Die strukturelle Gesundheitsförderung findet zu wenig Beachtung.

Möchten Sie über Neues und Wissenswertes zu Prävention und Gesundheitsförderung auf dem Laufenden gehalten werden? Hier können Sie unseren monatlich erscheinenden Newsletter bestellen.

Prof. Julika Loss | Seit 2020 Leiterin des Fachgebietes „Gesundheitsverhalten“ am Robert Koch-Institut (RKI). Zuvor war sie Professorin für Medizinische Soziologie an der Universität Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Einflussfaktoren z.B. für Bewegung und Ernährung sowie zu Gesundheitsförderung in Settings. Sie ist deutscher „Focal Point“ der WHO Europe für „Behavioural and Cultural Insights“.

Dr. PH Susanne Jordan | Stellvertretende Leiterin des Fachgebiets „Gesundheitsverhalten“ am Robert Koch-Institut (RKI). Forschungsschwerpunkte: Gesundheitskompetenz, Gesundheitsverhalten, Prävention und Gesundheitsförderung sowie partizipative Gesundheitsforschung. Sie ist im Vorstand des Deutschen Netzwerks Gesundheitskompetenz.

Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Gesundheitskompetenz„Gesundheitskompetenz lässt sich leichter beeinflussen als andere soziale Gesundheits-determinanten“

Die Gesundheitskompetenz-Studie HLS19 soll u.a. eine empirische Datenbasis für eine evidenzbasierte Gesundheitskompetenzpolitik schaffen und die Bedeutung von Gesundheitskompetenz auf der politischen Ebene stärken. Interview mit Prof. Dr. Jürgen Pelikan, Leiter der HLS19 Studie.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Europa und das Netzwerk zur Messung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und von Organisationen (M-POHL) haben gemeinsam den „Health Literacy Population Survey 2019-2021 (HLS19)“ initiiert. Insgesamt 17 Länder haben an der Gesundheitskompetenz-Studie teilgenommen, darunter auch Deutschland mit der Universität Bielefeld und der Hertie School Berlin. Die HLS19 Studie ergab, dass im Schnitt fast die Hälfte, 46 Prozent, aller Befragten in den teilnehmenden Ländern über eine geringe Gesundheitskompetenz verfügt. Beunruhigt Sie dieses Ergebnis inmitten der Corona-Pandemie?

In etwa entspricht dieses Ergebnis dem Resultat der früheren HLS-EU Studie (Erhebung 2011 in acht Mitgliedsländern der Europäischen Union), in der zwischen einem Drittel und zwei Dritteln der Befragten je nach Land begrenzte, das heißt inadäquate oder problematische allgemeine Gesundheitskompetenz hatten. In der HLS19 Studie sind es, je nach Land, in etwa zwischen einem Viertel und drei Viertel der Befragten.

Die größere Spannweite der Variation des Anteils kann aber auch sowohl an Änderungen der Methode wie an einer anderen Zusammensetzung der teilnehmenden Länder, diesmal der europäischen WHO-Region, liegen. Je nach Land ist der Anteil derjenigen mit begrenzter Gesundheitskompetenz in beiden Studien beunruhigend – das auch schon unabhängig von der Corona-Pandemie.

Aber in Zeiten der Corona-Pandemie ist geringe Gesundheitskompetenz noch problematischer, da höhere Anforderungen vor allem auch an präventive gesundheitsrelevante Entscheidungen und Handlungen der Bürgerinnen und Bürger und der Patientinnen und Patienten gestellt werden.


In welchen Bereichen ist eine Förderung der Gesundheitskompetenz notwendig?

In der HLS19 Studie wurden neben der allgemeinen Gesundheitskompetenz auch spezifische Gesundheitskompetenzen gemessen: digitale Gesundheitskompetenz, navigationale Gesundheitskompetenz (im Krankenbehandlungssystem), impfbezogene Gesundheitskompetenz und kommunikative Gesundheitskompetenz (mit Ärztinnen und Ärzten).

Für Deutschland liegen Ergebnisse für die digitale, navigationale und kommunikative Gesundheitskompetenz vor. International ist die kommunikative Gesundheitskompetenz eher etwas besser als die allgemeine, während die impfbezogene ungefähr gleich groß ist und die digitale und vor allem die navigationale noch deutlich schlechter als die allgemeine Gesundheitskompetenz sind. Somit ist neben der allgemeinen, impfbezogenen und der kommunikativen vor allem auch eine Förderung der navigationalen und digitalen Gesundheitskompetenz notwendig!


Geringe Gesundheitskompetenz geht mit einem ungesünderen Gesundheitsverhalten, schlechterem subjektiven Gesundheitszustand und einer intensiveren Inanspruchnahme des Gesundheitssystems einher. Die Gesundheitskompetenz hat also Einfluss auf die individuelle Gesundheit und auf die Kosten im Gesundheitssystem. Welche Voraussetzungen schafft die HLS19 Studie, damit gesundheitspolitische Veränderungen möglich sind?

Die HLS19 Studie zeigt Zusammenhänge auf zwischen Gesundheitskompetenz und, was Lebensstile betrifft, vor allem einen positiven Zusammenhang mit mehr physischer Aktivität, bzw. gesünderer Ernährung. Besonders ausgeprägt ist der Zusammenhang mit selbst-eingeschätzter Gesundheit: Befragte mit besserer Gesundheitskompetenz schätzen ihre Gesundheit besser ein, haben eher weniger chronische Krankheiten und sind in ihren Aktivitäten weniger durch chronische Krankheiten oder Gesundheitsprobleme eingeschränkt. Befragte mit besserer Gesundheitskompetenz nahmen tendenziell Gesundheitsdienste, vor allem Notfallambulanzen und praktische Ärztinnen und Ärzte, etwas weniger in Anspruch.

Damit demonstriert die HLS19 Studie, soweit das mit einem cross-sectional Studiendesign überhaupt möglich ist, dass personale Gesundheitskompetenz relevant ist für gesündere Lebensstile, Indikatoren der Gesundheit und Inanspruchnahme des Krankenbehandlungssystems, auch wenn andere mögliche Einflussfaktoren, wie Geschlecht, Alter, Bildung, sozialer Status und finanzielle Situation kontrolliert sind. Aber auch diese Ergebnisse variieren beträchtlich nach Land.

Für gesundheitspolitische Veränderungen ist wichtig, dass sich Gesundheitskompetenz prinzipiell leichter beeinflussen lässt als die „klassischen“ sozialen Determinanten der Gesundheit. Wobei zu berücksichtigen ist, dass Gesundheitskompetenz auf zweierlei Weise beeinflusst werden kann: durch Lernangebote zur Verbesserung der personalen Gesundheitskompetenz und/oder durch Verringerungen der Anforderungen der situativen Verhältnisse, die für Gesundheitskompetenz relevant sind. Dabei ist es beispielsweise einfacher und wirksamer, die Lesbarkeit und Verständlichkeit eines Textes zu verbessern als die Lesefähigkeit all jener, für die der Text gedacht ist. Ersteres kann man auch einfach tun, letzteres hängt dagegen von der Lernbereitschaft und Lernfähigkeit anderer ab und erfordert relativ viel Zeit, bis es wirksam wird.


Die Gesundheitskompetenz ist sozial ungleich verteilt. Insbesondere Menschen mit niedrigem sozialem Status und im höheren Lebensalter zeigen eine unterdurchschnittliche Gesundheitskompetenz. Wie und in welchen Bereichen können/müssen hier gezielt Verbesserungen erzielt werden?

Die HLS19 zeigt vor allem, für welche Bevölkerungsgruppen Gesundheitskompetenz problematisch ist und welche Aufgaben als besonders schwierig erlebt werden. International gesehen waren im Hinblick auf Gesundheitskompetenz vor allem Befragte vulnerabel, die ihre Gesundheit als schlecht einschätzten, finanziell depriviert waren, die ihren sozialen Status als schlecht einschätzten oder einen niederen Bildungsgrad hatten. Aufgaben, die als schwierig erlebt wurden, waren vor allem die Vor- und Nachteile von unterschiedlichen Therapien zu beurteilen, wie man sich vor Krankheiten aufgrund von Informationen in den Massenmedien schützen kann, und Informationen zu finden für den Umgang mit psychischen Problemen.

Die Studie erlaubt daher die Planung und Implementation von spezifischen, für bestimmte Adressaten beziehungsweise Aufgaben maßgeschneiderten Interventionen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz im jeweiligen Land. Da die relative Schwierigkeit von vier Arten von Aufgaben gemessen wurde, nämlich gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden in den Bereichen Krankenbehandlung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung, kann auf diese unterschiedlichen Arten von Aufgaben fokussiert werden.


Insgesamt haben 17 Länder an der HLS19 Studie teilgenommen. Was können wir von Ländern, in denen die Gesundheitskompetenz gut/besser ausgeprägt ist, lernen?

Das ist aufgrund der HLS19 Studie nicht leicht zu beantworten. Die Studie zeigt zunächst nur auf, wie das Niveau der Gesundheitskompetenz in den einzelnen Ländern unterschiedlich verteilt ist und wie stark die Zusammenhänge der Gesundheitskompetenz mit potenziellen Determinanten und Folgen unterschiedlich stark ausgeprägt sind.

Dabei sind Unterschiede zwischen den 17 beteiligten Ländern zum Teil auch ein Ergebnis von etwas unterschiedlichen Erhebungsmethoden in den Länderstudien, von unterschiedlicher demografischer Zusammensetzung ihrer Bevölkerungen, von Unterschieden ihrer Schul-, Gesundheits- und Politiksysteme beziehungsweise von bereits vorhandenen unterschiedlichen Politiken bezüglich Gesundheitskompetenz. Daher ist es schwierig, von den Daten anderer Länder direkt zu lernen.

Aber aus Studien und Überblicksarbeiten über den Erfolg von Vorgehensweisen und Maßnahmen zur Gesundheitskompetenz kann gelernt werden, was, wo, unter welchen Bedingungen erfolgreich war. Solche Arbeiten sind zum Beispiel die WHO-Publikation „Gesundheitskompetenz – Die Fakten“ (2016) (PDF), oder eine neuere Studie, „Health Literacy: What lessons can be learned from the experiences and policies of different countries“ (Adriaenssens et al., 2021).


Im November 2021 wurden die Ergebnisse der HLS19 Studie vorgestellt. Welche nächsten Schritte sind nun geplant?

Im internationalen M-POHL Konsortium beziehungsweise der HLS19 Studie geht es vor allem um weitere Auswertungen und Publikationen der Daten zu spezifischen inhaltlichen und methodischen Fragestellungen, auch zur Vorbereitung der nächsten Erhebung 2024 und um die Erarbeitung von Fact Sheets zur leichteren Verbreitung der neuen Messinstrumente. Weiterhin wird neben der WHO auch mit der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) kooperiert werden.

Auch sollen Projekte zur Messung der organisationalen Gesundheitskompetenz, wie zum Beispiel in Krankenhäusern, gestartet werden. Das alles wird auch von der WHO-Europa unterstützt und die Ergebnisse werden auch in deren Initiativen einfließen. Interventionen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz werden aber vor allem in den einzelnen Ländern unter Berücksichtigung ihrer besonderen Ergebnisse und der jeweiligen nationalen Gegebenheiten durchgeführt werden.

Für Deutschland heißt das, an den bereits auf Basis der HLS-EU Untersuchung erstellten „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ und dessen fünf Strategiepapiere „Gesundheitskompetenz im Erziehungs- und Bildungssystem fördern“, „Gesundheitskompetenz in die Versorgung von Menschen mit chronischer Erkrankung integrieren“, „Den Umgang mit Gesundheitsinformationen in den Medien erleichtern“, „Gesundheitskompetenz als Standard auf allen Ebenen im Gesundheitssystem verankern“ sowie „Gesundheitskompetenz systematisch erforschen“ anzuschließen.

Auch die Ergebnisse der zusätzlichen Studie „Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland“ und von Studien zum möglichen Einfluss der Corona-Pandemie sollten mit einbezogen werden. An der Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans arbeitet bereits eine internationale Expertengruppe.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitskompetenz. Interview mit den HLS-GER 2 – Studienleiterinnen, Prof. Dr. Doris Schaeffer und Dr. Eva-Maria Berens, vom Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) der Universität Bielefeld. 

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

Möchten Sie über Neues und Wissenswertes zu Prävention und Gesundheitsförderung auf dem Laufenden gehalten werden? Hier können Sie unseren monatlich erscheinenden Newsletter bestellen.

Univ.-Prof. Dr. phil. Jürgen M. Pelikan | Emeritierter Professor am Institut für Soziologie an der Universität Wien; Direktor des WHO-Kooperationszentrums für Gesundheitsförderung in Krankenhaus und Gesundheitswesen an der Gesundheit Österreich GmbH. Leiter von internationalen und nationalen Projekten zur Gesundheitsförderung (Health Promoting Hospitals, Health Promotion in General Practice and Community Pharmacy, Migrant Friendly Hospitals), zur Qualitätsentwicklung und zur Integration der Versorgung im Gesundheitswesen, und derzeit vor allem zur personalen und organisatorischen Gesundheitskompetenz

Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Gesundheitskompetenz„Es besteht großer Handlungsbedarf, die Gesundheitskompetenz zu verbessern“

Die Gesundheitskompetenz-Studie HLS-GER 2 zeigt, dass sich die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland weiter verschlechtert hat. Mit den Studienleiterinnen Prof. Doris Schaeffer und Dr. Eva-Maria Berens, beide vom Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) der Universität Bielefeld, über die Ergebnisse von HLS-GER 2.

2014 wurde die erste repräsentative Studie zur Gesundheitskompetenz in Deutschland (HLS-GER) durchgeführt: 54 Prozent der Befragten wiesen hierzulande eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz auf. Die aktuelle Health Literacy Studie HLS-GER 2 wurden neue Daten erhoben und auch die digitale Gesundheitskompetenz (eHealth Literay) untersucht. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Die Gesundheitskompetenz hat sich insgesamt verschlechtert, mittlerweile liegt der Anteil geringer Gesundheitskompetenz bei fast 60 Prozent. Die digitale Gesundheitskompetenz, also die Fähigkeiten, im Internet relevante Gesundheitsinformation zu finden, zu verstehen, beurteilen und umzusetzen, wurde mit einem neu im Rahmen des M-POHL (Measuring Population and Organizational Health Literacy) Netzwerks der WHO Europa entwickelten Instruments untersucht. Im Ergebnis zeigt sich, dass sie noch schlechter ausgeprägt ist als die allgemeine Gesundheitskompetenz. Drei Viertel der Befragten, rund 76 Prozent, weisen danach eine geringe digitale Gesundheitskompetenz auf.

Besonders die Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit und Neutralität digitaler Informationen wird als schwierig erachtet. Für über 82 Prozent der Bevölkerung ist es (sehr) schwierig zu beurteilen, wie vertrauenswürdig die gefundenen Informationen sind. Fast ebenso viele Befragte finden es (sehr) schwer einzuschätzen, ob hinter den Informationen kommerzielle Interessen stehen. Auch genau die digitale Gesundheitsinformation zu finden, nach der man sucht, scheint für viele Menschen nicht einfach zu sein.


Die Nutzung verschiedener digitaler Informationsangebote wie Apps, Social Media und Webseiten wurde in HLS-GER 2 genauer betrachtet. Wo liegen die Präferenzen?

Insgesamt ist die Bedeutung des Internets bzw. digitaler Medien als Informationsquelle gestiegen, aber die Gesundheitsprofessionen und insbesondere Ärztinnen und Ärzte spielen nach wie vor eine wichtige Rolle als Informationsinstanz. Sie stehen nach wie vor an erster Stelle bei den bevorzugten Informationsquellen.

Blickt man auf die Präferenzen und Nutzungshäufigkeiten der verschiedenen digitalen Informationsangebote, zeigt sich ein sehr heterogenes Bild. So werden Internetseiten zum Thema Gesundheit von fast zwei Dritteln der Bevölkerung genutzt, aber etwa 35 Prozent suchen nie im Internet nach Informationen zum Thema Gesundheit. Das ist ein wichtiges Ergebnis, denn bei aller Aufmerksamkeit, die die Digitalisierung derzeit erhält, sollte nicht vergessen werden, dass immerhin mehr als ein Drittel der Bevölkerung nie Internetseiten zum Thema Gesundheit ansteuert.

Andere digitale Informationsangebote werden von deutlich weniger Personen genutzt. Knapp 40 Prozent der Bevölkerung informieren sich über soziale Medien bzw. Online-Foren oder frequentieren sie zum Austausch. Mit den Gesundheitsprofessionen wie beispielsweise Ärztinnen und Ärzten oder Pflegefachpersonen interagieren bislang nur fast 16 Prozent der Bevölkerung digital.

Gesundheits-Apps auf dem Handy, um z. B. den Kalorienverbrauch zu kontrollieren, die Medikamenteneinnahme zu unterstützen oder körperliche Aktivität zu messen, werden lediglich von etwa 30 Prozent bzw. 20 Prozent der Bevölkerung genutzt.

Insgesamt sind digitale Informationsangebote zwar auf dem Vormarsch, doch große Teile der Bevölkerung werden nicht durch sie erreicht. Allen voran sind hier Menschen mit geringer Bildung und Menschen ab 65 Jahren zu nennen. Sie nutzen alle digitalen Informationsangebote seltener als jüngere oder gut gebildete Menschen.

Menschen mit Migrationshintergrund hingegen nutzen die Möglichkeiten zur digitalen Gesundheitsinformation auffällig häufig, insbesondere soziale Medien werden von fast 45 Prozent genutzt. Zusammengefasst zeigt sich, dass die Präferenzen für einzelne (digitale) Informationsquellen und auch deren Nutzungshäufigkeit in verschiedenen Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich sind.


Vor dem Hintergrund der Pandemie bekommen die Ergebnisse der HLS-GER 2 noch einmal ein ganz anderes Gewicht. Hat Corona die Relevanz der (digitalen) Gesundheitskompetenz noch weiter verstärkt?

Während der Corona Pandemie hat die Nutzung digitaler Gesundheitsinformations- und Kommunikationsmöglichkeiten zugenommen, wie unsere Zusatzerhebung zeigt. Auch der Anteil hoher digitaler Gesundheitskompetenz ist gestiegen. Wichtig ist jetzt zu beobachten, ob die zunehmende Akzeptanz bzw. Nutzung digitaler Angebote und auch die verbesserte digitale Gesundheitskompetenz nur eine Momentaufnahme darstellen oder ob sich diese Entwicklung langfristig bestätigt und festigt.


Bislang fehlte es an international vergleichenden bevölkerungsrepräsentativen Daten zur eHealth Literacy. Wie sieht der europäische Vergleich aus?

Solche Daten sind mit der internationalen Studie HLS19 zu erwarten, an der 17 Länder teilnehmen, auch Deutschland. Die Ergebnisse werden voraussichtlich im Herbst 2021 veröffentlicht. Erst dann werden wir wissen, wie der Vergleich konkret ausfällt. Schon jetzt deuten andere Studien an, dass wir nicht auf den ranghöchsten Plätzen stehen dürften.


Niedriger Bildungs- und Sozialstatus und geringe Lese- und Schreibfähigkeit sowie hohes Alter sind mit eingeschränkter Gesundheitskompetenz assoziiert. Die Daten des HLS-GER 2 sollen dazu beitragen, die Digitalisierung im Gesundheitswesen nutzerzentriert voranzubringen. Wie könnte das nun erreicht werden?

Dass Deutschland bei der Digitalisierung aufholen muss, ist kein Geheimnis und spiegelt sich auch in den dargestellten Daten wider. Das gilt ebenso für die digitale Gesundheitskompetenz. Hier besteht großer Handlungsbedarf, um die digitale Gesundheitskompetenz zu verbessern und auch um den bestehenden Entwicklungsrückstand im Vergleich zu anderen Ländern aufzuholen.

Dabei ist wichtig, bestehende soziale Unterschiede und Ungleichheiten zu beachten und Gruppen mit auffällig hohem Anteil an geringer Gesundheitskompetenz, wie Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Sozialstatus oder ältere Menschen gezielt zu adressieren und zu fördern. Zu bedenken ist dabei, dass ihnen vielfach der Zugang zu digitalen Medien fehlt und ergo auch strukturelle und kontextbezogene Interventionen erforderlich sind.

Zudem ist wichtig, nicht allein die Bevölkerung in den Blick zu nehmen, sondern auch wichtige Mediatoren, so besonders die Ärztinnen und Ärzte, die ja, wie erwähnt, nach wie vor wichtigste Anlaufadresse bei Gesundheitsinformationsfragen sind, ebenso andere Gesundheitsprofessionen, aber auch die Familie und das soziale Netz. Sie alle sind wichtige Anlaufstellen für Patientinnen und Patienten und können und sollten zur Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz beitragen. Allerdings benötigen auch sie dazu gezielte Fördermaßnahmen.


Der Nationale Aktionsplan zur Förderung der Gesundheitskompetenz (NAP) wurde 2018 veröffentlicht. Er enthält 15 Empfehlungen in vier Handlungsfeldern und benennt vier Prinzipien für die Umsetzung. Eine davon ist, die Forschung zur Gesundheitskompetenz auszubauen. Inwiefern hilft der HLS-GER 2 dabei, auch die weiteren Empfehlungen des Aktionsplans umzusetzen?

Der HLS-GER 2 liefert eine Fülle von Daten, die als Grundlage dafür dienen können, empirisch gesicherte Interventionen für unterschiedliche Zielgruppen zu entwickeln und auch die Empfehlungen der Nationalen Aktionsplans weiter umzusetzen. Wir selbst werden uns in den kommenden Monaten intensiv mit der Frage befassen, wie die Studienergebnisse konkret für die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans zur Förderung der Gesundheitskompetenz genutzt werden können und welche neuen Akzentsetzungen sie nahelegen. Das Thema digitale Gesundheitskompetenz wird dabei sicher eine prominente Rolle spielen.

Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Mehr zur Studie HLS-GER 2 erfahren Sie hier.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitskompetenz. Interview mit Prof. Dr. Kevin Dadaczynski, Professor für Gesundheitskommunikation und -information an der Hochschule Fulda, und Dr. Orkan Okan, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung an der Universität Bielefeld und Co-Chair der Global Working Group Health Literacy der IUHPE.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health in All Policies. Interview mit Prof. Dr. Ilona Kickbusch.

Möchten Sie über Neues und Wissenswertes zu Prävention und Gesundheitsförderung auf dem Laufenden gehalten werden? Hier können Sie unseren monatlich erscheinenden Newsletter bestellen.

Prof. Dr. Doris Schaeffer | Senior-Professorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, Leitung des Interdisziplinären Zentrums für Gesundheitskompetenzforschung (gem. mit Prof. Dr. Ullrich Bauer) der Universität Bielefeld. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitskompetenz, Patienteninformation und -beratung, Bewältigung und Versorgung bei chronischer Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Sie vertritt Deutschland im Action Network on Measuring Population and Organizational Health Literacy (M-POHL) der WHO-Europa und leitet zahlreiche Studien zur Gesundheitskompetenz.

Dr. Eva-Maria Berens | Gesundheitswissenschaftlerin und Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung der Universität Bielefeld. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitskompetenz, Migration und Gesundheit sowie soziale Ungleichheit und Gesundheit. Sie koordiniert die Studien HLS-GER 2 und HLS-MIG.