Prävention und Gesundheitsförderung im Alter„Gesundheitsförderung und Prävention sind in allen Lebensphasen von größter Bedeutung“

Der Psychologe und Gerontologe Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg und Vorsitzender der Altersberichtskommission der Bundesregierung sowie Mitglied des Deutschen Ethikrates, über die Voraussetzungen für ein gesundes Altern.

Der demografische Wandel in Deutschland längst angekommen: Jede zweite Person ist hierzulande älter als 45 und jede fünfte älter als 66 Jahre. Die Vereinten Nationen haben das aktuelle Jahrzehnt als „Dekade des gesunden Alterns“ benannt – gemeinsam mit der WHO, der Weltbank und weiteren Organisationen werden Maßnahmen zur Verbesserung des Lebens älterer Menschen, ihren Familien und den Gesellschaften, in welchen sie leben, entwickelt und umgesetzt.

Herr Professor Kruse, an Ihrem Institut wird schon seit langen zu Altersbildern und zu „Ageism“ geforscht, also der Diskriminierung aufgrund des Alters. Was hat sich in Bezug auf Altersbilder im Kontext von Gesundheit und Gesundheitsverhalten besonders durch die Corona-Pandemie verändert?

Altersbilder haben wir sowohl in nationalen als auch in internationalen Kontexten untersucht, wobei wir Interviews mit Angehörigen unterschiedlicher Generationen ebenso geführt haben wie mit Medienvertreterinnen und -vertretern sowie mit Expertinnen und Experten unterschiedlicher Gebiete der Gerontologie und der Medizin. Hinzu traten Analysen von Zeitungsartikeln in großen Tageszeitungen. Wenn ich einmal auf die Folge von Untersuchungen in den vergangenen drei Jahrzehnten blicke, dann möchte ich konstatieren: Die gesellschaftliche und auch die individuelle Sicht auf das Alter ist lange nicht mehr in dem Maße von Verletzlichkeit, Verlusten und gesellschaftlichen Belastungen bestimmt, wie dies noch vor 20, 25 Jahren der Fall war.


Warum?

Die Entwicklungsmöglichkeiten und die Ressourcen im Alter werden heute deutlich stärker zur Kenntnis genommen und artikuliert. Einen Beitrag im nationalen Kontext – ich sage ausdrücklich: einen Beitrag – bildete der Fünfte Altenbericht der Bundesregierung, der sich ausdrücklich mit den Potenzialen des Alters befasste und in meinen Augen die öffentliche – und hier auch die politische – Diskussion zu Fragen des Alters mitgeprägt hat. Ähnliches gilt für den Siebten Altenbericht, der sich mit neuen (produktiven) Sorgestrukturen in den Kommunen beschäftigt und gezeigt hat, wie groß die Initiativen sind, die hier auch von alten Menschen ausgehen.

Mit Blick auf die Corona-Pandemie hat sich auch die Sicht des Alters in einer Richtung präzisiert: die Verletzlichkeit oder Verwundbarkeit bzw. Vulnerabilität vor allem des hohen Alters wurde wieder stärker in den Blick genommen. Und sie musste in den Blick genommen werden, weil ja nur zu deutlich wurde, dass die Risiken der Infektion wie auch des symptomreichen, wenn nicht sogar letalen Verlaufs im hohen Alter deutlich erhöht sind. Dass hier die Frage nach „besonderem Schutz“ alter Menschen adressiert wurde, war nur verständlich. Aber: Die Art und Weise, wie mit alten Menschen umgegangen wurde, wie diese angesprochen wurden, wie hier „Schutz“ verordnet und verwirklicht wurde – dies haben nicht wenige alte Menschen, und das völlig zu Recht, als eine Form der Demütigung erlebt.


Was hätte man tun sollen?

Hier hätte ungleich differenzierter gehandelt und argumentiert werden müssen. Man denke nur an die „Schließung“ von Pflegeheimen, die bisweilen wie eine uneinnehmbare Festung erscheinen mussten, was übrigens auch auf Seiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Zumutung und große Belastung erlebt wurde. Was deutlich wird: Auch gegenüber alten Menschen ist eine hochdifferenzierte, nicht nur kognitiv, sondern auch existenziell und emotional ansprechende Information und Aufklärung zu wählen, die die einzelnen Schritte genau begründet.

Und: In Phasen der Pandemie erweist sich eine umfassende Konzeption von „Gesundheitsverhalten“ als notwendig: Wo Schutz ist, muss zugleich auch Aktivierung und Teilhabe sein. Körperliche, kognitive, ästhetische, emotionale und sozialkommunikative Aktivierung erweisen sich in Phasen der Pandemie geradezu als unerlässlich, wenn einem Verlust von Ressourcen entgegengewirkt werden soll. Anders ausgedrückt: Auch in solchen Phasen zeigt sich, wie wichtig das Gesundheitsverhalten – verbunden mit und motiviert durch entsprechende Angebote – ist.


Von den Vereinten Nationen wurde jüngst das Jahrzehnt des gesunden Alterns (UN Decade of Healthy Ageing 2021 -2030) ausgerufen. Mit Unterstützung der WHO sind u. a. Maßnahmen intendiert, die unsere Denkweise und unser Handeln in Bezug auf das Alter verändern sollen. Zudem sollten die Angebote zur primären Gesundheitsversorgung altersgerecht sein und die Fähigkeiten und Ressourcen älterer Menschen gezielt gefördert werden. Woran müssen wir in Deutschland vorrangig arbeiten, damit „gesundes Altern“ möglich ist? Welche Rolle haben dabei Prävention und Gesundheitsförderung?

Ich möchte dies sehr klar beantworten: Unser Gesundheitssystem betont zu einseitig die Kuration und fängt somit im Hinblick auf die „Förderung von Gesundheit“ viel zu spät an. So wichtig und unerlässlich Kuration ist, da gibt es ja gar nichts zu deuteln, so wichtig sind die rechtzeitig betriebene Gesundheitsförderung und Prävention. Es geht eben nicht nur darum, Pathologie zu verringern, sondern es geht auch darum, gesundheitliche Ressourcen –- kognitiv, verhaltensbezogen, emotional –aufzubauen und kontinuierlich zu stärken.

Zudem geht es darum, Risikofaktoren – im Verhalten, in der Umwelt – zu erkennen und zu lindern oder ganz abzubauen. Diese Ziele sollten wir übrigens über den gesamten Lebenslauf verfolgen. Gesundheitsförderung und Prävention sind in allen Lebensphasen von größter Bedeutung.


In einer aktuellen Studie „Älter werden in Balance“ wurden sogenannte „Daseinsthemen“ definiert. Was macht das Leben im Alter lebenswert?

Es war dies eine Studie, die wir in jahrelanger, enger Kooperation mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verwirklicht haben und die auch eine Grundlage dafür bildet bzw. weiterhin bilden soll, gesundheitsbezogene Botschaften in die Öffentlichkeit und dabei auch in unterschiedliche Lebenswelten zu bringen. Die Vorbereitungen zur Veröffentlichung sind nun abgeschlossen und wir vermuten, dass wir Ende des Jahres mit der entsprechenden Publikation herauskommen werden.

Ja: die Daseins- oder Lebensthemen waren für uns in dieser Studie zentral. Welches sind die zentralen Anliegen, Werte und Perspektiven, die das Erleben und Verhalten alter Menschen beeinflussen? Mit einer Stichprobe von 400 Personen können und wollen wir hier keine Repräsentativität beanspruchen, und doch eröffnen uns die Ergebnisse die Möglichkeit, den „Erlebenshintergrund und Sinnhorizont“ im Alter noch besser zu verstehen und seine Bedeutung auch für das Gesundheitsverhalten aufzuzeigen.


Worauf kommt es an?

Drei Aspekte seien hier stellvertretend angeführt. Erstens: Die Erfahrung, eine Aufgabe zu haben, kann für die Lebensbindung, für das Sinnerleben, für das Wohlbefinden alter Menschen nicht hoch genug bewertet werden. Was dabei als Aufgabe erscheint, variiert von Person zu Person erheblich. Aber die große Bedeutung des erlebten Aufgabencharakters für die innerpsychische Situation ist unumstritten. Zweitens: Viele Menschen praktizieren das, was ich eine kreative Sorge für und um andere Menschen nennen möchte. Ich möchte nicht allein Umsorgter sein, nein: ich möchte die Sorge erwidern können, mithin mein Leben in den Dienst von etwas stellen. Dieses Motiv beobachten wir übrigens auch bei vielen Menschen am Ende ihres Lebens.

In dem gerade erschienenen Buch „Vom Leben und Sterben im Alter. Wie wir das Lebensende gestalten können“ habe ich entsprechende Überlegungen und Befunde angeführt ebenso wie in dem 2017 erschienenen Buch „Lebensphase hohes Alter: Verletzlichkeit und Reife“. Drittens: Die innerpsychische Situation ist in hohem Maße belastet, wenn sich bei Menschen eine stärker oder stark ausgeprägte Pflegebedürftigkeit entwickelt, vor allem aber, wenn sich das Erleben von Einsamkeit ausbildet. Eine (unfreiwillige) Isolation und Einsamkeit, verbunden mit dem Erleben, von anderen Menschen nicht mehr gebraucht zu werden, keine Aufgabe mehr zu haben, führt vielfach zu der Überzeugung, „aus der Welt gefallen“ zu sein.


Der Achte Altersbericht der Bundesregierung „Ältere Menschen und Digitalisierung“ ist 2020 erschienen. Warum widmete sich der Altersbericht dieser Thematik und was hat Sie besonders überrascht?

Zum einen zeigt sich, dass Mobilität, Partizipation, Kommunikation, sicheres Wohnen sowie Leistungen in den Bereichen Gesundheit und Pflege heute nicht mehr an digitaler Technologie und entsprechenden Produkten vorbeigehen können. Zum anderen mehren sich die Befunde, die deutlich machen, dass – unter der Bedingung einer überzeugenden Anleitung, aber auch unter der Bedingung der Mitwirkung bei der Produktdefinition und -entwicklung – digitale Techniken von alten Menschen sehr gut und funktional in ihre Lebens- und Handlungswelt „inkorporiert“ werden können – um einmal dieses Wort zu wählen.

Schließlich durfte die Gruppe alter Menschen in der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung nicht fehlen. Dabei durften wir uns als Kommission – die übrigens ausgezeichnet zusammengestellt war und hocheffektiv arbeitete – darüber freuen, dass wir zu jenen gehörten, die schon früh mit einem konzeptionell fundierten und praxisnahen Bericht an die Öffentlichkeit gelangt sind.


Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Für uns war in dem Bericht auch sehr wichtig, auf mögliche Risiken einer digitalen Spaltung, das heißt der Spaltung zwischen den verschiedenen Sozialschichten, hinzuweisen. Zudem haben wir darauf hingewiesen, dass ethische Fragen auch die Mitwirkung alter Menschen bei der Identifikation, der Entwicklung sowie der Anwendung von Produkten bedeutet. Zudem müssen Fragen des Datenschutzes sensibel adressiert und höchst überzeugend beantwortet werden. Und schließlich gilt: der unmittelbare Kontakt zwischen Menschen, eine leibnahe Pflege, Therapie und Rehabilitation dürfen nicht durch die digitale Technik ersetzt werden; der digitalen Technik kommt hier eine – allerdings sehr bedeutende – komplementäre Funktion zu.


Auch die 20. BVPG-Statuskonferenz beschäftigt sich mit dem Thema Alter, speziell mit der psychischen Gesundheit in dieser Lebensphase. Wie wichtig ist das Thema „psychische Gesundheit im Alter“ für den Bereich Prävention und Gesundheitsförderung aus Ihrer Sicht?

Es geht bei der Betrachtung der psychischen Gesundheit im Alter zunächst darum, organische, emotionale, soziale und existenzielle Ursachen oder Einflussfaktoren von psychischen Krankheiten zu differenzieren. Diese Differenzierung ist notwendig mit Blick auf Gesundheitsförderung und Prävention.


Das heißt?

Beginnen wir mit den verschiedenen Formen der Demenz, die auf organische – vaskuläre und / oder neuronale – Ursachen zurückzuführen sind. Mittlerweile wissen wir viel über das präventive Potenzial der gezielten Aktivierung von kognitiven und körperlichen Funktionen in früheren Lebensjahren wie auch der Vermeidung oder Kontrolle von Herz-Kreislauf- sowie von Stoffwechselerkrankungen mit Blick auf unterschiedliche Demenzformen. Setzen wir fort mit den sich im Lebenslauf chronifizierenden psychischen Störungen, die eine fundierte psychotherapeutische Behandlung erforderlich machen, die gegebenenfalls im Alter noch einmal wiederholt werden muss: hier stehen emotionale Faktoren sowie Faktoren der Persönlichkeit im Zentrum.

Weiterhin sind soziale Einflüsse zu beachten, die sich auch aktuell negativ auf die psychische Gesundheit auswirken: ein im Alter besonders wichtiger Einfluss sind Isolation und Einsamkeit, auf die mit einer psychologischen Intervention ebenso geantwortet werden sollte wie mit der Schaffung natürlicher, niedrigschwelliger Begegnungsangebote in der Kommune. Zu den existenziellen Einflüssen rechne ich Sinnkrisen, die zum Beispiel aus einem hochkonfliktreichen Lebensrückblick wie auch aus der Erfahrung, keine Aufgabe mehr zu haben, erwachsen können, zudem aus der zunehmend bedeutender werdenden Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit. Hier sind nicht nur psychologische und psychotherapeutische, sondern auch hochreflektiere seelsorgerische sowie sozialkulturelle Angebote wichtig.

Der Gesundheits- wie auch der Krankheitsbegriff blieben in allen Lebensaltern unzureichend, würden sie nicht ausdrücklich die psychische Gesundheit mitbedenken. Das Gleiche gilt für Gesundheitsförderung und Prävention. Zudem halte ich eine Soziopsychosomatik, die durch eine existenzielle Dimension erweitert wird, für unerlässlich, wenn Fragen der Gesundheit und der Krankheit, der Gesundheitsförderung und Prävention erörtert werden.

Die Fragen stellten Linda Arzberger und Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.


Lesen Sie dazu auch:

Interview zum Thema „Gesundes Altern“ mit Prof. Dr. Eva-Marie Kessler, Professorin für Gerontopsychologie an der MSB Medical School Berlin und Sprecherin der Interessengruppe „Klinische Gerontopsychologie und Psychotherapie im höheren Lebensalter“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. (DGPs).

Interview zum Thema „Geschlechtersensible Prävention und Gesundheitsförderungmit Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Universität Bielefeld und Radboud Universität in Nijmegen (NL).

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten erfahren Sie hier.

Weitere Informationen zur BVPG-Statuskonferenz „Psychische Gesundheit in der dritten Lebensphase“ finden Sie hier.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse | Seit 1997 Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, Vorsitzender der Altersberichtskommission der Bundesregierung, seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrates; Mitglied in weiteren internen und externen Kommissionen.

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt COVID-19„Gesundheitsfördernde Strukturen sind auch in Krisenzeiten handlungsfähig“

Welchen Einfluss hat die Pandemie auf die gesundheitlichen Ungleichheiten? Was bedeutet das für die Arbeit in den Landesvereinigungen für Gesundheit? Antworten von Thomas Altgeld, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. (LVG & AFS) und BVPG-Vorstandsmitglied.

Benachteiligte Menschen leiden häufiger an chronischen Erkrankungen und haben somit ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19. Zudem kommen sie wahrscheinlich häufiger mit dem Virus in Kontakt und sind ungleich stärker von den Maßnahmen zum Infektionsschutz betroffen. Die Corona-Pandemie droht also, die bestehenden sozialen Ungleichheiten zu verschärfen. Welche Herausforderungen ergeben sich durch COVID-19-Pandemie für die Unterstützung vulnerabler Zielgruppen?

Bevor ich zur eigentlichen Antwort auf die Frage komme, finde ich auch es wichtig zu erwähnen, dass die COVID-19-Pandemie in Deutschland auch die unmittelbare Folge einer globalisierten Wirtschaft ist. Den Virus nach Deutschland getragen haben die Mitarbeitenden von Unternehmen, Urlaubende, die nach Asien gereist sind, auf Kreuzfahrtschiffen oder im Skiurlaub unterwegs waren. Also alles Menschen, die nicht sozial benachteiligt sind. Bei den notwendigen, wahrscheinlich erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen der Pandemie ist dann schon die Verordnung, zuhause zu bleiben für die laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. etwa 650.000 Obdachlosen in diesem Land per se unerfüllbar gewesen.

Das gesamte Maßnahmenbündel inklusive des Homeschoolings ist von besser gestellten Gruppen mit einen höheren Bildungsniveau in größeren, komfortableren Wohnungen einfacher zu bewältigen gewesen. Auch hat die Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit viel mehr Berufstätige aus dem Billiglohnsektor etwa in der Gastronomie, Reinigung oder Taxigewerbe häufiger getroffen. Die Hotspots des Virus werfen aktuell auch einen erschütternden Eindruck auf die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, in der modernes Sklaventum mit Werkverträgen und Massenunterkünften gepflegt wird. Die Politik hat mit dem Verbot von Werkverträgen eine erste Schlussfolgerung aus den Missständen gezogen. Auch die anderen deutlich gewordenen Herausforderungen liegen eher auf der Ebene der Sozialpolitik als der Gesundheitsförderung. Mehr Chancengerechtigkeit im Bildungswesen, gerechtere Entlohnung und effektive, unbürokratische Hilfen für Menschen in Notlagen haben auch unmittelbare Gesundheitseffekte. Das ist auch eine Lehre aus der Pandemie.


Welche Rolle spielt in diesen Zusammenhang die Arbeit der Landesvereinigungen für Gesundheit(sförderung)?

Die Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit spielte schon bei der Vereinsgründung der ältesten Landesvereinigung, nämlich der in Niedersachsen, eine zentrale Rolle. 1905 ging es da um Tuberkuloseprophylaxe in den unzumutbaren Arbeitersiedlungen in Hannover. Auch heute ist gesundheitliche Chancengleichheit das Thema, das alle Landesvereinigungen vorantreiben, deshalb sind auch dort die Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit angesiedelt. Diese haben aktuell vor allem die Unterversorgungslagen von vulnerablen Bevölkerungsgruppen, etwa Obdachlosen oder Menschen mit Migrationshintergrund deutlich gemacht, Transparenz über Hilfsangebote in der Coronakrise hergestellt und Lobbyarbeit im Bereich der Landespolitik betrieben. Außerdem wurden Angebote auf die veränderten Shutdown-Rahmenbedingungen hin angepasst.


Inwiefern ändern sich, bedingt durch COVID-19, die bisherigen Ansätze zur Unterstützung vulnerabler Zielgruppen?

Die müssen sich nicht grundsätzlich ändern. Schon jetzt entwickeln die Landesvereinigungen Angebote für vulnerable Gruppen nicht von oben herab als quasi Volksbeglückung, sondern im Dialog mit ihnen. Wir in Niedersachsen lehnen auch den Begriff der „Zielgruppe“ deshalb ab, weil immer besser gebildete und besser gestellte Bevölkerungsgruppen dann auf benachteiligte Gruppen „zielen“. Wer will schon gerne selbst eine „Zielgruppe“ von irgendwas oder irgendwem sein. Da diese Top-down-Konzepte so gut wie nie erfolgreich sind, weil sie nicht angenommen werden, wird dann zu allem Überfluss die Schuld dafür bei den Menschen selber abgeladen und sie auch noch als „schwer erreichbare Zielgruppen“ diffamiert.

Eine dialogisch orientierte Gesundheitsförderung in Lebenswelten, muss sich auch nach der Krise nicht verändern, da ist eher die Frage, über welche Kanäle der Dialog organisiert wird. Was die Pandemie aber deutlich gemacht hat, ist, wie Health-in-all-Policies möglich ist, wie ernst die Politik gesundheitliche Herausforderungen nimmt. Das weiter zu fordern, auch in Richtung mehr Verhältnisprävention bei den großen Suchtthemen wie Alkohol, Tabak, Glücksspiel und Ernährung, ist eher die Aufgabe der Landesvereinigungen als Lehre aus dem aktuellen Geschehen!


In welchen Bereichen zeigt sich, dass mit den bisherigen Strategien zur Stärkung der Gesundheitlichen Chancengleichheit erfolgreich gearbeitet wurde und man nun, in der Pandemie, die bisherige Arbeit gezielt und effektiv fortführen kann?

In den Lebenswelten, also in der gesundheitsfördernden Arbeit im Quartier und in der Kommune. Die Entwicklung integrierter Handlungskonzepte auf dieser Ebene in Form von Präventionsketten für nachwachsende Generationen ist zu einem zentralen Arbeitsfeld der Landesvereinigungen geworden im letzten Jahrzehnt. Diese Netzwerke vor Ort haben auch in Zeiten der Krise funktioniert. Wenn vor Ort weniger Parallelaktivitäten heterogener Akteurinnen und Akteure stattfinden und eine gemeinsame Zielstellung wie die der Stärkung des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen verfolgt werden, sind die Strukturen auch in Krisenzeiten handlungsfähig und können schnell auf veränderte Herausforderungen reagieren.


Können Sie uns dazu Beispiele nennen?

Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist auch das vom GKV Bündnis für Gesundheit geförderte Projekt der Verzahnung von Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Hier wird die gesundheitsfördernde Angebotsentwicklung für Langzeitarbeitslose in Jobcentern vorangetrieben. Die Arbeit der Jobcenter hat sich völlig verändert durch die Krise und so bitter das auch ist, sie ist jetzt kundenfreundlicher geworden, weil die ganzen Einbestellungen und das Sanktionsregime erst mal wegfallen. Anträge per Telefon zu stellen, war vorher undenkbar in diesem Kontext. Es wurden durch die Landesvereinigungen Gesundheitsförderungsangebote für Langzeitarbeitslose, die mit diesen entwickelt worden waren, digitalisiert. Die Resonanz auf die Angebote in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen beispielsweise ist gut. Wahrscheinlich ist eine Folge der Pandemie sowieso ein Digitalisierungsschub in den Behörden, aber auch in der Gesundheitsförderung. Das macht ganze neue Angebotsstrukturen möglich.


Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt COVID-19: Interview mit Dr. med. Ute Teichert, Direktorin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf und Vorstandsmitglied der BVPG.

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Thomas Altgeld | Diplompsychologe, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V; Vorsitzender des Bundesforum Männer – Interessenverband für Jungen, Männer & Väter; langjähriges Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V., Leiter der Arbeitsgruppe 7 „Gesundheit aufwachsen“ und Arbeitsgruppe 13 „Gesundheit rund um die Geburt“ von gesundheitsziele.de; Mitglied im Gesundheitsbeirat des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB); Arbeitsschwerpunkte: Systemische Organisationsentwicklung und -beratung, gesundheitliche Chancengleichheit, Männergesundheit.

Die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. (LVG & AFS) ist ein gemeinnütziger Fachverband mit Sitz in Hannover und Bremen, gegründet 1905. Zu den Arbeitsfeldern gehören lebensweltbezogene und dialogisch orientierte Gesundheitsförderung, Beratung und Vernetzung von Akteurinnen und Akteuren aus dem Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich, Qualifizierungsangebote für Akteurinnen und Akteure sowie Öffentlichkeitsarbeit. Die LVG & AFS setzt neue Impulse für die Praxis, Forschung und Politik mit dem Ziel, zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit beizutragen.

Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt COVID-19„Die Bedeutung der Gesundheitsförderung ist auch während der COVID-19-Pandemie groß“

Die COVID-19-Pandemie wirkt sich auf alle Aspekte unseres Lebens aus und hat tiefgreifende sozioökonomische Folgen für die gesamte Bevölkerung – besonders trifft sie die Schwächsten und Vulnerabelsten der Gesellschaft, sagt Dr. med. Ute Teichert, Direktorin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen (AÖGW).

Welchen Beitrag kann Gesundheitsförderung leisten, um wirksam mit der COVID-19-Pandemie umzugehen?

Die Bedeutung der Gesundheitsförderung ist auch während der Pandemie groß und kann an verschiedenen Punkten ansetzen:

Bei gesundheitsfördernden Angeboten ist zu berücksichtigen, dass sich die Bevölkerung voraussichtlich noch länger in einer Ausnahmesituation befinden wird. Insbesondere das Thema soziale Isolation und deren Folgen sind dabei in den Fokus zu nehmen. Soziale Isolation trifft Menschen in sehr verschiedenen Situationen und Settings.

Zu dem Thema soziale Isolation sind von dem Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 bereits verschiedenen Policy Briefs und Fact Sheets veröffentlicht worden. Sie verweisen u.a. darauf, dass die soziale Isolation nicht nur durch die mittlerweile gelockerten Kontaktbeschränkungen zustande kommt, sondern beispielsweise auch für Personen im Homeoffice ein Risiko darstellt.

Durch die Pandemie ist derzeit die Durchführung der gesundheitsfördernden Angebote oft nicht möglich.

Genau – viele gesundheitsfördernde Angebote können aufgrund von Hygiene- und Abstandsregelungen nicht in gewohnter Art und Weise durchgeführt werden, beispielsweise sind gruppenbezogene Bewegungsangebote nur in eingeschränktem Maß möglich.

Gesundheitsförderung muss sich auf die veränderten Bedingungen einstellen und hierbei zu neuen Konzepten kommen, die digitale Angebotsformen mitberücksichtigen. Neben Beratungsangeboten sind auch Online-Schulungen zum Selbstmanagement in der Krise, zur gesundheitsförderlichen Gestaltung des Homeoffice etc. mit zu berücksichtigen. Zentrale Aspekte der Gesundheitsförderung wie Teilhabe/Partizipation, Capacity Building und Empowerment spielen auch bei digitalen Angebotsformen eine wichtige Rolle.


Über COVID-19 wird viel berichtet. Jeden Tag gibt es neue Informationen. Welche Bedeutung hat die Stärkung der Gesundheitskompetenz?

Die Gesundheitsförderung kann bei der Stärkung der Gesundheitskompetenz einen wichtigen Beitrag leisten. Die Bevölkerung ist in hohem Maße verunsichert. Dazu tragen zwei Aspekte bei. Menschen werden erstmals mit empirischer Forschung live konfrontiert. Die Prinzipien des empirischen Forschungsprozesses, also Hypothese, Antithese, Synthese, und des wissenschaftlichen Arbeitens sind in der Bevölkerung verständlicherweise kaum bekannt. Dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei einer unbekannten Situation im Umgang mit einem neuartigen Virus zu unterschiedlichen Aussagen und Forschungsergebnissen kommen können, ist für die Bevölkerung nur schwer verständlich. Hier kann die Gesundheitsförderung einen Beitrag zur Steigerung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung leisten.

Zusätzlich tragen Falschnachrichten in hohem Maße zur Verunsicherung bei. Zum Umgang mit Falschnachrichten in den Medien ist ebenfalls ein Fact Sheet des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 veröffentlicht worden. Einen wesentlichen Beitrag könnte hier beispielsweise die BZgA leisten, indem sie allgemeinverständliche und Informationen in leichter Sprache zu COVID-19 und zum Sars-CoV-2 bereitstellt.


Sozioökonomische Faktoren haben Einfluss darauf, ob man an COVID-19 erkrankt und wie die Krankheit verläuft. Was heißt das für die Gesundheitsförderung?

Gesundheitsfördernde Angebote müssen insbesondere Personen in den Blick nehmen, die aufgrund ihres sozioökonomischen Status in stärkerem Maße betroffen sind. Analysen aus USA und UK zeigen, dass es einen starken sozialen Gradienten in der Ausbreitung des Sars-CoV-2 gibt und die Mortalität um ein Vielfaches höher ist als bei nicht deprivierten Personen. Eine weitere Studie aus Schottland kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.

Für Deutschland liegen hierzu noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. In einem Hintergrundpapier des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 über „Indirekte Gesundheitsfolgen der aktuellen Maßnahmen zum Infektionsschutz in Deutschland“ kommen die Autorinnen und Autoren zu dem Schluss, dass auch in Deutschland diese Menschen den „höchsten Preis“ zahlen werden. Ein kaum beachteter Personenkreis sind Wohnungs- und Obdachlose. Nicht nur, dass sie kein Zuhause haben, indem sie bleiben können, auch der größte Teil der Unterstützungsstrukturen wie Tafeln, Unterkünfte und Bahnhofsmissionen ist bzw. war weggebrochen.

Gesundheitsförderung für sozial Deprivierte muss auf einer anderen Ebene ansetzen. Hier stehen strukturelle und existenzsichernde Maßnahmen in Wahrsten Sinne des Wortes im Vordergrund. Das heißt Maßnahmen müssen hier direkt auf das Überleben der Personen abzielen.

Zusätzlich sind Familien in den Blick zu nehmen. Kita- und Schulschließungen, fehlende Betreuungsmöglichkeiten und Hilfen durch den Allgemeinen Sozialdienst, das Jugendamt und anderen Einrichtungen haben dazu beigetragen, dass insbesondere sozial deprivierte Familien aufgrund ihrer Wohn- und Arbeitssituation und die dadurch gegebenenfalls bedingte finanzielle Notlage in hohem Maße belastet sind.

Erste Erkenntnisse weisen auf zunehmende Zahlen von Kindesvernachlässigung und -misshandlung hin. Für diesen Personenkreis gilt ebenso, dass die Aufrechterhaltung bzw. Wiederinbetriebnahme der Angebote und Betreuungen sowie weiterführende Hilfen zum Lebensunterhalt zentral sind. Gesundheitsförderung muss hier auf eine strukturelle Änderung hinwirken, um dadurch mittelbar die Gesundheit dieser Familien zu schützen.

Ebenfalls in den Blick zu nehmen sind systemrelevante Berufsgruppen sowie Akteurinnen und Akteure kritischer Infrastrukturen, kurz KRITIS, hier insbesondere Angehörige der Gesundheitsberufe, die ein extrem hohes und belastendes Arbeitsaufkommen haben sowie diejenigen, die infolge der Krise in Not geraten sind.

Wichtig ist auch der Fokus auf Familien und deren Lebensalltag. Durch den Wegfall der Betreuung der Kinder in Kindertagestätten und Schulen, konzentriert sich das Zusammenleben im Setting „Familie“. Hier müssen ad hoc viele verschiedene Anforderungen erfüllt werden. Neben der Organisation des Alltags, müssen auch die Aufgaben der Schule bei gleichzeitig stattfindendem Home Office gestemmt werden. Hier könnte die Gesundheitsförderung ansetzen, um Familien in der Krise zu stärken. Zu prüfen ist etwa, in welchem Rahmen erfolgreich aufgebaute Präventionsketten ihre Arbeit wieder aufnehmen können.


Inwiefern könnte man die Pandemie als Weckruf bezeichnen, die den Blick auf die Prävalenz und die Beeinflussbarkeit für das Entstehen von nichtübertragbaren Krankheiten (non-communicable diseases, NCDs) wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und deren Risikofaktoren nochmals schärft?

Dieser Weckruf ist leider noch nicht überall angekommen. Dass erst die Pandemie dazu beiträgt, den Blick auf die seit Jahren zunehmende Prävalenz von NCDs zu schärfen, ist an sich schon ein Umstand, der zu bedauern ist. Gleichzeitig deutet dies darauf hin, dass viele der bisher vorhandenen Maßnahmen wenig wirksam und nachhaltig waren.


Woran liegt das?

Mit verhaltensbezogenen Präventionsangeboten wird seit Jahrzehnten versucht, Menschen zu einem anderen Lebensstil zu bewegen. Tatsächlich ist es so, dass auch hier die sozialen Bedingungen unter denen Menschen leben, wohnen und arbeiten, einen bedeutenden Anteil daran haben. Das Institute of Health Equity des University College London unter Leitung von Prof. Sir Michael Marmot hat dazu verschiedene Berichte veröffentlicht. Insbesondere unter der Überschrift „The causes of the causes“ wird seit langem betont, dass Risikoverhaltensweisen am Ende eines Pfades liegen und alleine deren Veränderung nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der gesundheitlichen Chancen führen kann.

Das Konzept der Gesundheitsförderung baut auf Prinzipien wie Autonomie, Empowerment, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Intersektoralität auf. Müssen wir diese Prinzipien im Lichte von COVID-19 überdenken oder neu ausrichten?

Nein, meines Erachtens müssen diese Prinzipien nicht neu ausgerichtet werden. Sie sollten nur ihre konsequente Anwendung finden. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass Akteurinnen und Akteure der Gesundheitsförderung in einer Pandemie Berührungspunkte mit der Infektionsepidemiologie haben und sich diese wiederum mit den Auswirkungen sozialer Determinanten auf Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen muss. In diesen Bereichen müssen dann Berührungsängste abgebaut werden. Das birgt die Chance neuer Netzwerke und Konstellationen, die wir unbedingt nutzen sollten.

Gesundheit muss in allen Politikbereichen eine Rolle spielen. Der Health in All Policies- Ansatz impliziert die Verankerung bzw. Berücksichtigung gesundheitlicher Belange in allen Politikbereichen. Hierbei geht es um ein sich gegenseitig ergänzendes und nicht widerstreitendes Miteinander.


Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Ein wirklich gutes Beispiel ist die Stadt Utrecht in den Niederlanden. Dort wird konsequent eine Gesundheitsfolgenabschätzung, also ein Health Impact Assessment, bei neuen Projekten durchgeführt. Dadurch hat sich beispielsweise das Fachpersonal im Öffentlichen Gesundheitsdienst um ein Vielfaches erhöht.


Der Gesetzgeber hat erst kürzlich mit dem „Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ zentrale Punkte im Infektionsschutzgesetz angepasst und dabei den Öffentlichen Gesundheitsdienst gestärkt. Erwarten Sie dadurch Veränderungen in der nationalen Gesundheitsförderungs- und Präventions-“Landschaft“?

Ja, das erwarte ich, denn die Veränderungen sind dringend notwendig. Es ist dringend erforderlich, dass die personelle Stärkung durch Fachkräfte im ÖGD dauerhaft umgesetzt wird und nicht nur auf die Zeit der Pandemie beschränkt bleibt. Nur Hilfskräfte in der Pandemie in die Gesundheitsämter zu schicken, reicht nicht aus.

Schon zu normalen Zeiten sind die Gesundheitsämter personell so schlecht aufgestellt, dass sie ihre originären Aufgaben nicht erfüllen können. Deswegen ist die im Gesetz vorgesehene Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes dringend notwendig. Ich würde mir aber wünschen, dass dies noch deutlich erweitert wird, denn das ist nur „ein Tropfen auf dem heißen Stein“.

Gesundheitsförderung und Prävention sind als Aufgabenbereiche des Öffentlichen Gesundheitsdienstes in den letzten Wochen völlig aus dem Blickfeld gerutscht, was ich sehr bedauere. Gerade während der Pandemie wäre es unheimlich wichtig, das Hygieneverhalten und die Gesundheitskompetenz aller zu stärken. Wenn mit Blick auf Hygiene sich alle Bevölkerungsgruppen an präventive Verhaltensmaßnahmen halten würden, bräuchten wir über so drastische Einschnitte wie Lockdown nicht mehr zu sprechen.

Insofern fände ich es wichtig, dass sich alle Akteurinnen und Akteure in diese Richtung aufstellen. Dabei erscheint es mir von zentraler Bedeutung, „Schubladen“ im Kopf zu überwinden. Prävention und Gesundheitsförderung funktionieren auch im Bereich Infektionsschutz, man muss nur den Horizont erweitern und anders denken. Dem Ziel des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung können wir uns alle gemeinsam verpflichten. Ein guter Ansatz dazu ist die Initiative „Hygienetipps für Kids“, die zahlreiche Angebote für diesen Bereich enthält.


Die Fragen stellten Dr. Beate Grossmann und Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health in All Policies, Interview mit Prof. Dr. Ilona Kickbusch.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Dr. med. Ute Teichert | Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen und Gesundheitswissenschaftlerin; Direktorin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf; Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e.V.; Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.; seit 1998 ist im Öffentlichen Gesundheitsdienst tätig.

Die Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen mit Sitz in Düsseldorf ist eine öffentlich-rechtliche Bildungsinstitution, die von den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein finanziert wird. Sie wurde 1971 als bundesweit einzige länderübergreifende Einrichtung zur Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Beschäftigten im Öffentlichen Gesundheitsdienst gegründet. Ferner gehört die angewandte Forschung im Bereich des Öffentlichen Gesundheitswesen zu ihren Aufgaben.

Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt mHealth„Ethik von mHealth ist mehr als die Diskussion von Daten und Datenschutz“

Regelmäßig werden ethische Bedenken hinsichtlich mHealth geäußert – insbesondere mit Blick auf den Datenschutz, die Intransparenz und den möglichen Bias der Algorithmen. Ein Gespräch über Ethik und mHealth mit Dr. Verina Wild, stellv. Direktorin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Auf der 18. BVPG-Statuskonferenz „Digitalisierung und Gesundheitsförderung: Schwerpunkt mHealth“ haben Sie zum Thema „mHealth: Refexion des digitalen Wandels“ referiert. Für mHealth-Angebote gibt es derzeit kein einheitliches Gesetz. Wo liegt das Problem?

Zunächst einmal möchte ich auf die neue Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) hinweisen, die derzeit als Referentenentwurf vom Bundesministerium für Gesundheit vorliegt. Hier werden die Technologien reguliert, deren Kosten in Zukunft durch das ebenfalls neue Digitale Versorgung-Gesetz (DGV) rückerstattet werden können. Es tut sich also einiges im gesetzlichen Bereich. 

Aber Sie haben Recht, es ist nicht so einfach. Zu Beginn unseres BMBF-geförderten Forschungsprojektes „META“ (mHealth: Ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte im technologischen Zeitalter) baten wir eine angehende Juristin, für uns die Gesetzeslage zu mHealth zusammenzustellen. Das war sehr anspruchsvoll, da mHealth-Angebote viele verschiedene juristische Bereiche betreffen. Das erstreckt sich von Haftungs- und Patentfragen über IT-Recht bis hin zu Regelung von Prävention, Medizin, Medizinprodukten und biomedizinischer Forschung. Wenn man an Datenmissbrauch und an bestimmte Formen von Hacking denkt, wird auch das Strafrecht relevant. Es sind also verschiedene Rechtsgebiete betroffen, das erschwert die Regulierung von mHealth-Angeboten. 

Bei dem Nachdenken über Gesetze ergeben sich außerdem definitorische Schwierigkeiten: Wie grenzt man zum Beispiel Wellness- und Lifestyle- von Medizinprodukten ab? Eine der zentralen Fragen dahinter ist: Was ist denn Gesundheit, was ist Krankheit? Eigentlich bräuchten wir die Klärung dieser Fragen, um bestimmen zu können, welches mHealth Angebot für welches Ziel steht und wie es jeweils reguliert werden sollte. Aber wir haben in unserer Forschung festgestellt, dass die verschiedenen Anwendungsbereiche (z.B. Wellness, Prävention, Gesundheitsförderung, Krankheitsmanagement) sowohl praktisch als auch theoretisch schwierig voneinander abgrenzbar sind.

Ein zusätzliches Problem ist der geographische Fokus: Ist es überhaupt möglich, etwas national zu regulieren, was nicht auf Deutschland begrenzbar ist? Schließlich sind ja die mHealth-Angebote, die Entwickler, die Anbieterplattformen, die weiterführenden Interessengruppen aus dem Bereich Social Media oder Marketing häufig international aufgestellt. Nutzende laden sich Apps aus aller Welt herunter und vernetzen sich auf Social Media völlig selbstverständlich unabhängig geographischer Grenzen. 

Weitere Herausforderungen liegen unter anderem in der Schnelligkeit und Dynamik der Entwicklungszyklen und in der Adaptierbarkeit, die mHealth ja gerade so attraktiv machen. Wollen wir beispielsweise Qualitätsstandards festlegen – was wir ja derzeit vielerorts versuchen zu tun – müssen wir diese Dynamik mitberücksichtigen. Es ist aber noch nicht klar, wie. Wie gehen wir mit Apps um, die anhand bestimmter Qualitätsstandards zertifiziert wurden, an denen aber regelmäßig Softwareupdates vorgenommen werden?


Gesundheitsethiker sehen neben dem Datenschutz auch den Umgang mit den Unmengen an erhobenen Daten kritisch. Welche Probleme gibt es aus Ihrer Sicht in diesem Bereich?

Es wäre gut, wenn die „Unmengen an Daten“ einen Sinn und Nutzen für die Allgemeinheit haben könnten, wenn ihre Auswertung zum Beispiel zu epidemiologischem Erkenntnisgewinn führen würde oder zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung oder auch zur besseren Erhebung und Evaluation von Nebenwirkungen von Medikamenten, usw. Allerdings ist es nicht klar, wie der Zugang zu diesen Daten und ihre sinnvolle vernetzte Analyse organisiert werden könnte. Die Daten sind kompartimentalisiert, das heißt, Teile der „Unmengen an Daten“ gehören einem, Teile einem anderen. Sie sind nicht frei verfügbar. Wenn wir uns vorstellen, dass die Daten in einem open access-Verfahren z.B. für Forschende und Gesundheitsorganisationen zugänglich sein sollen, dann müssten die einzelnen Anbieter, die sie sammeln, sie auch bereitstellen. Die Daten sind aber ihr höchstes Gut. Jemand, der mit Daten Profit macht, ist vielleicht nicht so einfach bereit, sie zur Verfügung zu stellen. 

Als eine weitere Möglichkeit zur Nutzung von Daten wird die Datenspende diskutiert. Hier soll also jemand, dessen Daten erhoben werden, sie für einen allgemein sinnvollen Zweck (wie epidemiologische Forschung) zur Verfügung stellen. Auch hier ist es nicht klar, ob und wie eine solche Spende ethisch einzuschätzen ist – vorausgesetzt, es besteht Interesse daran, sie umzusetzen und sie ist technisch und juristisch möglich. Kann man die Menge und Art der erhobenen Daten einschätzen, wenn man kein Experte für Datenanalyse ist? Eigentlich müsste man als Datenspender ja verstehen, welche Daten wie erhoben werden und was mit ihnen gemacht wird. Das ist einerseits so komplex, dass wir hier wahrscheinlich noch viel mehr Aufklärung und Bildung brauchen. Andererseits ist heute teilweise noch gar nicht bekannt, was in Zukunft mit Daten und Vernetzung von Datensätzen überhaupt möglich sein wird und ob Anonymität langfristig gewährleistet sein kann – viele meinen wahrscheinlich eher nicht. Es müsste also sehr genau definiert sein, an wen die Daten zu welchem Zweck gespendet werden und wie der Schutz der spendenden Person auch langfristig gewährleistet ist.


In der für Deutschland repräsentativen Stichprobe wiesen 54,3 % der Befragten eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz auf. Was bedeutet dies für die Nutzung von mHealth-Anwendungen? Oder anders gefragt: Wie beeinflusst mHealth das Verhältnis von Eigenverantwortung für Gesundheit und Gerechtigkeit?

Im öffentlichen Diskurs über mHealth (zum Beispiel im Bereich von Politik, Medien, Beschreibung und Marketing von mHealth) sehe ich eine sehr positive Auslegung der Begriffe Empowerment, Partizipation, Eigenverantwortung für Gesundheit. Es ist auch aus ethischer Sicht auf den ersten Blick gut, wenn gesunde oder kranke Nutzende beteiligt sind an ihrem Gesunderhaltungs- oder Genesungsprozess oder in ihrem Krankheitsmanagement, wenn sie sich damit identifizieren, wenn sie motiviert sind, wenn sie verstehen, was passiert und sich selbst gestärkt und gehört fühlen. All dies steckt in den Begriffen Empowerment, Partizipation und Eigenverantwortung für Gesundheit. 

Diese Begriffe dürfen aber nicht nur als positiver Effekt von mHealth schlagwortartig behauptet werden, sondern es muss auch belegbar so stattfinden, um wirklich als „gut“ bewertet zu werden. Hier ist u.a. die von Ihnen angesprochene Gesundheitskompetenz ganz zentral. Nur jemand, der weiß, worum es geht, kann auch wirklich eigenverantwortlich und „empowered“ entscheiden und handeln. Manche Nutzende verstehen aber nicht, was mit den Daten passiert oder wie Algorithmen geschrieben werden und funktionieren. Sie fühlen sich vielleicht durch die Technologien überfordert, unter Druck, überwacht oder kontrolliert. Das wäre dann gar kein Empowerment, im Gegenteil. Wie und ob Empowerment und Partizipation sich tatsächlich einstellt und auch als positiv empfunden wird, muss die Forschung erst noch besser herausfinden. 

Aber auch gesamtgesellschaftlich müssen wir uns fragen, was sinnvoll ist und wo womöglich Grenzen der Eigenverantwortung liegen. Die Frage, ob mHealth „gerecht“ ist, hört häufig beim Zugang schon auf: Wer hat Zugang zu den Technologien und können alle sie gleichermaßen gut nutzen?


Und was macht das Bestreben nach verbesserten „getrackten“ Gesundheitsdaten mit dem eigenen Verständnis von Gesundheit und der Beziehung zum eigenen Körper?

MHealth bietet wirklich interessante und attraktive Möglichkeiten, ein besseres Verständnis für den eigenen Körper, die Körpervorgänge und Gesundheit und Krankheit zu bekommen. Wir lesen und hören von positiven Erfahrungen, weil Nutzende besser schlafen, regelmäßiger Sport treiben, ihr Blutzuckerprofil besser unter Kontrolle haben, aufgehört haben zu rauchen oder anderes, weil sie Hilfe durch eine gute App oder einen digitalen Sensor oder ähnliches haben. Das ist aus ethischer Sicht sinnvoll und gut, denn es kann zu besserer Gesundheit und Lebensqualität führen. 

Aber auch hier gibt es eine Kehrseite. Wir wissen, dass das konstante Tracking, das Wissen um Körpervorgänge und die Möglichkeit, sich mit anderen zu vergleichen, auch belastend sein kann. Es kann zu Gefühlen der ständigen Überwachung und Kontrolle und zu Schuldgefühlen kommen. Lustbetonte Aktivitäten zum Beispiel im Bereich von Ernährung oder Sexualität fühlen sich für manche auf einmal belastet und beschwert an. Es kann zu Suchtverhalten kommen, wenn die Anforderungen z.B. von einer Fitness-App zu ernst genommen werden und die graphische Darstellbarkeit der eigenen Leistung zu immer weiteren Leistungssteigerungen animiert. Es gibt auch Berichte, dass Personen sich erst dann schwach oder krank fühlen, wenn die App ihnen „schlechte“ Werte mitteilt. Was passiert da also mit unserem Körpergefühl? Manche Jugendliche, die ihre getrackten Werte untereinander teilen, berichten auch von einer zunehmenden Minderung des Selbstwertgefühls, je mehr sie digitale Angebote nutzen.

Ich denke, wir sollten hier ganz genau hinschauen, um gerade bei Kindern und Jugendlichen oder anderen solcher „vulnerablen Gruppen“ Probleme zu erkennen und sie bestmöglich im Umgang mit den Technologien zu unterstützen. Es gibt dazu bereits kritische philosophische, soziologische und sozialempirische Forschung, die einiges aufdeckt, was zum Nachdenken anregt. Hier ist aber noch viel mehr Forschung nötig. Ich fände es außerdem gut, wenn es dazu mehr Diskussion in der Bevölkerung gäbe. Denn es wird immer wieder deutlich: Ethik von mHealth ist mehr als die Diskussion von Daten und Datenschutz. In meiner Forschungsgruppe arbeiten wir deshalb gerade an einer Webseite, die bald online geht (about-mHealth.net), auf der wir viele dieser Aspekte auf hoffentlich ansprechende Weise für einen intensiven Austausch zur Verfügung stellen möchten.


Die Fragen stellte Inke Ruhe, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt mHealth. Interview mit Dr. Florian Fischer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Ravensburg-Weingarten.

>Mehr zur 18. BVPG-Statuskonferenz „Digitalisierung und Gesundheitsförderung: Schwerpunkt mHealth“ erfahren Sie hier.

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PD Dr. med. Verina Wild | Forschung und Lehre im Bereich Medizinethik, Bioethik, Public Health Ethik, Global Health Ethics. Seit 2020 Professorin für Ethik der Medizin, Universität Augsburg; zuvor stellvertretende Direktorin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Leitung der BMBF-geförderten Forschungsgruppe „META“ zu ethischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Aspekten mobiler Gesundheitstechnologien (www.meta.med.uni-muenchen.de); Mitglied des Ausschuss „Digitalisierung der Gesundheitsversorgung“ der Bundesärztekammer.

Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Pflege„Ein enormes Potenzial, das noch längst nicht ausgeschöpft ist“

Welche Bedeutungen haben Prävention und Gesundheitsförderung für Pflegende und Pflegebedürftige in stationären Einrichtungen? Prof. Dr. Corinna Petersen-Ewert, Professorin für Gesundheits- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Vorstandsmitglied der BVPG, gibt dazu Antworten.

Frau Professorin Petersen-Ewert, zur Aufwertung des Pflegeberufes werden derzeit u.a. Lohnerhöhung, verlässliche Arbeitszeiten, Erweiterung des Verantwortungsspielraumes sowie Verbesserung der Ausbildung und der beruflichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten diskutiert. Welchen Anteil haben Prävention und Gesundheitsförderung bzw. gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen, um die Attraktivität des Berufes zu steigern?

Eine sehr wichtige Frage, bei deren Beantwortung man unterschiedliche Ebenen berücksichtigen muss. Zunächst die inhaltliche Ebene des pflegerischen Handelns: Prävention und Gesundheitsförderung sind wichtige Komponenten im Leistungsspektrum der pflegerischen Praxis – sie sind relevant, um eine salutogenetische Betrachtungsweise des Menschen zu ermöglichen. In der Pflege geht es ja vor allem auch darum, die Ressourcen der Patientinnen und Patienten zu stärken.

Wenn die Rahmenbedingungen dies jedoch nicht zulassen, wie wir es leider häufig erleben, dann können die Pflegenden ihr Potenzial nicht ausschöpfen und verlieren letztendlich oftmals Freude an ihrem Wirken. Um die Attraktivität des Berufes zu steigern, ist es wichtig, die inhaltliche Ausrichtung der pflegerischen Tätigkeiten auch bezüglich Prävention und Gesundheitsförderung zu stärken. Prävention und Gesundheitsförderung spielen eine also große Rolle, um die die Attraktivität des Berufes zu steigern – im Sinne einer Rückbesinnung auf das, was Pflege ausmacht.

Eine weitere Betrachtungsebene sind die Angebote zu Prävention und Gesundheitsförderung durch den Arbeitgeber. Zunächst ist ja erstaunlich, wie wenig systematisch Unternehmen die präventiven und gesundheitsförderlichen Angebote zur Verfügung stellen und diese auch bewerben. Dabei ist davon auszugehen, dass Unternehmen durch Angebote zur Prävention und Gesundheitsförderung einen Wettbewerbsvorteil für sich erlangen können. Für die Unternehmen ist es also essentiell, diesen Vorteil für sich zu nutzen. Für beide Ebenen, für Pflegende und für Einrichtungen, bergen Prävention und Gesundheitsförderung ein enormes Potenzial, das längst noch nicht ausgeschöpft ist.

Der Pflegeberuf ist – im Vergleich zu anderen Branchen – durch einen hohen Krankenstand geprägt. Auch gehen viele Pflegekräfte nach der Babypause nicht wieder in den Beruf zurück. Inwiefern können Prävention und Gesundheitsförderung denn dazu beitragen, Krankenstände zu verringern und vermehrt Berufsrückkehrerinnen und Berufsrückkehrer zu gewinnen?

Was wir häufig beobachten, ist, dass es keine „systematischen Wiedereingliederung“ gibt. Vielmehr findet oftmals kurz nach der Rückkehr in den Beruf eine sofortige Überforderung statt. Diese sollte unbedingt vermieden werden, damit kein „Drehtür-Effekt entsteht. Oft werden die Rückkehrer aber so eingeplant, als wäre nichts passiert – und das ist ein großer Fehler. Das ist zwar im Hinblick auf Personalengpässe verständlich, jedoch nicht zielführend, um eine langfristige Bindung zu unterstützen. Wir brauchen daher einer Kultur der Wertschätzung und Rücksichtnahme, die bei hoher Belastung allerdings an die Grenze der Umsetzbarkeit stößt – wie es derzeit in der stationären Pflege gegeben ist. Hier können Konzepte wie Achtsamkeit, Kommunikation im Team, Flexibilität eine wichtige Rolle spielen. Der Handlungsspielraum ist noch nicht ausgeschöpft.

Besonders hoch sind Beschwerden im Bereich des Muskel-Skelett Systems und der Psyche. Gibt es Schlüsselmaßnahmen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung, die zu einer nachhaltigen und wirksamen Verbesserung dieser körperlichen und psychisch-emotionalen Belastungen führen?

Wir alle wissen, wie schwierig es ist, eine langfristige Wirksamkeit zu belegen. Hier bedarf noch mehr Forschungsvorhaben, die kontrolliert und systematisch dieser Fragestellung nachgehen. Es existieren einige Ansätze, aber letztendlich können wir hier noch nicht von Schlüsselmaßnahmen sprechen. Es gilt vor allem, die Arbeitsumwelt gesundheitsförderlich zu gestalten. Selbstverständlich ist es wichtig zu wissen, wie man rückenschonend pflegt, allerdings müssen dann hierfür auch Personal, adäquate Zeiträume sowie entsprechende Hilfsmittel vorhanden sein. Außerdem reicht es nicht aus, eine Maßnahme nur einmalig zu schulen. Häufig sind auch Erinnerungen und Auffrischungen notwendig.

Ferner wissen wir, dass sich Pflegende vor allem Fortbildungen zur Stressreduktion wünschen. Allerdings müssen wir auch hier umfassend schauen. Es gilt, nicht nur verhaltenspräventive, sondern auch verhältnispräventive Maßnahmen umzusetzen: Pausen können nur eingehalten werden, wenn das Arbeitsumfeld auch entsprechend gestaltet ist. Fazit: Es gibt gute Schulungsangebote und -konzepte, und nun gilt es, den Transfer in die Praxis zu begleiten. Es handelt sich dabei um Veränderungen im Unternehmen, die mit Aufwand verbunden sind, aber ich bin mir sicher, dass sich diese letztendlich auszahlen werden.

Die Pflege ist weiblich. Was ist genderspezifisch zu beachten?

Natürlich müssen wir genau schauen, was die Bedarfe und Bedürfnisse der Adressaten sind. Häufig sind Frauen in der Pflege mit mehrfachen Belastungen konfrontiert: Neben der Erziehung der eigenen Kinder gehört nicht selten auch die Pflege von nahestehenden Angehörigen zu ihren Aufgaben. Hinzu kommt die Schichtarbeit. Wiedafür gesorgt werden kann, dass die Familie gut versorgt wird, ist also die zentrale Frage. Bei den Angeboten der Prävention und Gesundheitsförderung ist vor allem darauf zu achten, dass diese nicht noch mehr Anforderungen stellen, sondern für Entlastung zu sorgen. Frauen profitieren häufig von Netzwerken. Wie können Netzwerke entlastend genutzt werden? Wie können Entlastungspunkte geschaffen werden, damit nicht die ganze Last auf den Schultern der Frauen liegt? All dies sind die Fragen, auf die die Prävention und Gesundheitsförderung in den jeweiligen Unternehmen Antworten finden muss.

Und wenn wir jetzt mal einen Blick auf eine hohe Arbeitsfähigkeit bis zum Rentenalter werfen: Wie differenzieren sich Ansätze zur Prävention und Gesundheitsförderung bei älteren bzw. bei jüngeren Pflegekräften?

Bei den Jüngeren geht es sicher um das Thema der Kinderbetreuung – und die damit verbundene mögliche Belastung. Auch sind die Themen Karriereplanung und Zukunftsperspektiven am Arbeitsplatz ein wichtiges Thema. Bei älteren Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen ist es eher die Betreuung von Angehörigen. Man sollte immer sehr differenziert und individuell schauen. Wichtig ist, das persönliche Gespräch rechtzeitig zu suchen und nicht erst, wenn die Überforderung bereits eingetreten ist. Mit der individuellen Karriereplanung muss also frühzeitig begonnen und sie sollte dauerhaft und begleitend in das Arbeitsleben integriert werden.

Welche Rolle spielt die Gesundheitskompetenz von Pflegekräften bei der Umsetzung von Konzepten zur Prävention und Gesundheitsförderung?

Es wird häufig angenommen, dass Pflegende aufgrund ihres Wissens ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz haben „sollten“, jedoch zeigt sich oft, dass das Wissen um Krankheitsentstehung, Problemlösefähigkeit usw. nicht immer bedeutet, dieses Wissen gut für die eigene Person umsetzen zu können. Häufig ist es einfacher, andere zu beraten. Unter den belastenden Arbeitsbedingungen ist es natürlich nochmal schwieriger, für sich selbst zu sorgen und achtsam zu sein. Es gilt zu sensibilisieren. Die eigene Kompetenz spielt hier sicherlich eine Rolle, aber auch die Arbeitsumwelt.

Für die Umsetzung von Konzepten zur Prävention und Gesundheitsförderung ist es wichtig, dass die Pflegenden über eine entsprechende Qualifikation verfügen. Die Akademisierung stellt einen wichtigen Meilenstein dar, den es in Deutschland noch weiter zu formen gilt. Duale Studiengänge der Pflege, aber auch aufbauende, interdisziplinäre Studiengänge qualifizieren Pflegende, so dass sie auch präventive und gesundheitsförderliche Projekte umsetzen können. Ein Studium der Pflege oder eines auf die Ausbildung aufbauenden Studienganges sollte nicht mehr die Ausnahme sein, sondern eine tragende Säule innerhalb der Pflegelandschaft.

Welche wirksamen und nachhaltigen Konzepte für Pflegekräfte bzw. Pflegebedürftige, die als Blaupause dienen könnten, gibt es bereits?

Mit dem Begriff „Blaupause“ tue ich mich schwer. Für wichtiger halte ich, dass wir voneinander lernen und auch, dass wir aus Fehlern lernen können. Es gibt durchaus einige Projekte, die einen (nachhaltigen) Effekt auf die Gesundheit und die Lebensqualität erzielen. Aber ob diese dann für andere Einrichtungen mit anderen Bedingungen ebenso zielführend sind, bleibt ja offen. Entscheidend ist, von erfolgreichen Ansätzen zu lernen und dennoch flexibel zu bleiben.

Die Handlungsfelder zur Stärkung der gesundheitsfördernden Potenziale von stationär Pflegebedürftigen sind laut „Leitfaden Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen“ Ernährung, körperliche Aktivität, kognitive Ressourcen, psychosoziale Gesundheit und Prävention von Gewalt. In welchem Bereich sehen Sie den größten Hebel zur Verbesserung des gesundheitsfördernden Potenzials?

Grundsätzlich ist es ja so, dass die Bereiche schwer voneinander abgrenzbar sind. Natürlich kann eines der Handlungsfelder der Schwerpunkt einer Intervention sein. Bei der Messung der Wirkung sollte man sich aber nicht nur auf dieses eine Handlungsfeld beschränken, sondern auch die Interaktionen der einzelnen Bereiche in den Fokus nehmen.

Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Pflege und Arbeitswelt. Interview mit Prof. Dr. Gudrun Faller, Professorin für Kommunikation und Intervention im Kontext Gesundheit und Arbeit, und Prof. Dr. Tanja Segmüller, Professorin für Alterswissenschaft; beide Hochschule für Gesundheit Bochum.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung in der Pflege erfahren Sie hier.

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Prof. Dr. Corinna Petersen-Ewert | Professorin für Gesundheits- und Sozialwissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg im Department Pflege und Management; ehemaliges Mitglied im Vorstand der BVPG; Vorsitzende der Hamburgischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V.; Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsförderung von Menschen mit chronischen Erkrankungen, Pflege und Gesundheitsförderung, interdisziplinäre Zusammenarbeit im Gesundheitswesen.