Prävention und Gesundheitsförderung im Setting Hochschule„Gesundheitsförderung im Setting Hochschule hat großes Potenzial!“

Gesundheitsförderung im Setting Hochschule zu verankern ist eine der Aufgaben des Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverbandes e.V. (adh). Julia Berschick, studentisches Vorstandsmitglied, und Felicitas Horstmann, Projektleitung Gesundheitsförderung, erläutern die Vorteile von Sport und Bewegung beim Studieren.

Der Dachverband der Hochschulsporteinrichtungen erreicht insgesamt 2,4 Mio. Studierende, rund 550.000 Bedienstete sind beim adh tätig und mit 203 Mitgliedshochschulen ist fast jede zweite Hochschule in Deutschland Mitglied beim adh.

Seit 2017 kooperiert der adh mit der Techniker Krankenkasse (TK), um mehr Bewegung in den Studienalltag zu bringen. Was soll sich durch die Initiative „Bewegt studieren – Studieren bewegt! 2.0“ verändern?

Felicitas Horstmann: Aufgrund des Erfolgs der ersten gemeinsamen Initiative, die von 2017 bis 2019 umgesetzt wurde, ist die zweite Runde im Jahr 2020 mit 50 bundesweit geförderten Projekten gestartet. Ziel der Initiative 2.0 ist es, nicht nur den Alltag von Studierenden bewegter zu gestalten, sondern auch das Gesundheitsmanagement an Hochschulen durch den Hochschulsport voranzutreiben. Zu diesem Zweck wird, neben den geförderten Projekten, der Hochschulsport als Akteur im Gesundheitsmanagement gestärkt und qualifiziert.

Im Juni dieses Jahres startete die Qualifizierungsreihe „Gesundheitsmanagement im und durch den Hochschulsport“, deren Ziel die Kompetenzentwicklung im Handlungsfeld Gesundheitsmanagement im Setting Hochschule ist. Mit ihr sollen vor allem die Besonderheiten des Hochschulsports im Vergleich zu anderen Akteurinnen und Akteuren der Gesundheitsförderung an Hochschulen herausgestellt und berücksichtigt werden.

Gleichzeitig hat sich der adh zum Ziel gesetzt, das Themenfeld „Gesundheitsförderung“ im Verband strategisch weiterzuentwickeln, um den Hochschulsporteinrichtungen eine weitere Legitimationsebene zu eröffnen und sie politisch zu stärken.


Was sind die größten Herausforderungen bei der Implementierung eines Gesundheitsmanagements an Hochschulen?

Felicitas Horstmann: Eine der größten Herausforderungen sind die Vielfalt und Menge an Akteurinnen und Akteuren im Setting Hochschule, die zudem unterschiedliche Aufgaben und Ziele haben. So gibt es neben dem Hochschulsport weitere zentrale Einrichtungen – wie beispielsweise das Studierendenwerk oder den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) –, die beim Aufbau eines Gesundheitsmanagements beteiligt werden sollten. Es braucht Fingerspitzengefühl und ein diplomatisches Geschick, um die verschiedenen Akteurinnen und Akteure des Handlungsfeldes an einen Tisch zu holen und eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.

Darüber hinaus gelten Studierende, entgegen der vorherrschenden Studienlage, weiterhin als gesunde Bevölkerungsgruppe und stehen nicht im Fokus der Gesundheitspolitik. Folglich fehlt es vielerorts an den notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen, um das Studentische Gesundheitsmanagement (SGM) als Teil des hochschulischen Gesundheitsmanagements aufzubauen.


Warum lohnt sich Studentisches Gesundheitsmanagement ? Was sind die Vorteile?

Felicitas Horstmann: Es gibt viele Gründe für die Implementierung eines Studentischen Gesundheitsmanagements. Bezugnehmend zur Eingangsfrage möchte ich beispielhaft die Ergebnisse einer online-basierten Querschnittsuntersuchung anführen. Die Studie wurde im Rahmen der Initiative 1.0 innerhalb des Projekts „BeTaBalance – bewegt studieren zwischen Berg und Tal“ der Universität Tübingen im Jahr 2018 durchgeführt.

Untersucht wurde der Einfluss sportlicher und körperlicher Aktivität auf die akademische Leistungsfähigkeit. Die Studie zeigt, dass Studierende, die die Empfehlungen für ausdauerorientierte körperliche Aktivität erfüllen, also 150 Minuten/Woche bei moderater oder 75 Minuten/Woche bei hoher Intensität, eine höhere Funktionsfähigkeit im Studium aufweisen als Studierende, die diese Bewegungsempfehlungen nicht erfüllen. Dieser positive Effekt auf die Funktionsfähigkeit im Studium konnte sowohl für Sportaktivitäten in der Freizeit als auch für das „aktive Pendeln“ mit dem Fahrrad gezeigt werden.

Darüber hinaus konnten Ergebnisse aus anderen Studien bestätigt werden: Das Aktivitätsverhalten kann einen Einfluss auf die Beschwerdewahrnehmung von Studierenden haben. So berichteten Studierende, die die ausdauerorientierten Empfehlungen erfüllen, signifikant seltener von Beschwerdeformen wie Konzentrationsbeschwerden, Niedergeschlagenheit oder Rückenschmerzen. Dies ist insofern von Bedeutung, da Beschwerden stark mit der Funktionsfähigkeit im Studium korrelieren. Folglich lassen die Studienergebnisse vermuten, dass körperliche Aktivität einen gewissen Teil des negativen Zusammenhangs zwischen Beschwerden und Funktionsfähigkeit im Studium abpuffern kann.

Da es sich bei den entscheidenden Bewegungsformen vor allem um strukturierte Sportaktivitäten handelt, deutet dies auf die Wichtigkeit des Sportverhaltens als Bewältigungs- und Erholungsmaßnahme hin.


Also kann Sport beim Studieren helfen?

Felicitas Horstmann: Ja, Sport kann einen Einfluss auf den akademischen Erfolg haben. Die Befunde des Projektteams aus Tübingen zeigen, dass Bewegung durchaus ein Baustein von vielen verschiedenen weiteren Bedingungen ist, der zu einer erfolgreichen Gestaltung des Studiums beiträgt. Bewegung ist dabei als eines der Puzzleteile mit zu berücksichtigen, wenn es um die Förderung des Studienerfolgs und die Vermeidung von Studienabbrüchen geht.

Solche empirischen Befunde, wie die der Querschnittsanalyse, die eine Verknüpfung zwischen Gesundheit, Gesundheitsverhalten und Parametern des akademischen Erfolgs darstellen, liefern wichtige Argumente. Die konsequente Verbindung der Bewegungsförderung mit akademischen Argumenten ist vor allem für die immanente Handlungslogik von Bildungseinrichtungen relevant. Bewegungsfördernde Maßnahmen im Studentischen Gesundheitsmanagement, wie sie auch vom genannten Projekt „BeTaBalance 2.0“ an der Universität Tübingen angeboten werden, sind damit nicht nur über den gesundheitlichen Nutzen von körperlicher Aktivität begründbar, sondern auch durch Beziehungen zu einer erfolgreichen Gestaltung des Studiums.

Krisen können auch Chancen sein – welche Chancen sehen Sie durch die Corona-Pandemie für die Gesundheitsförderung an Hochschulen?

Julia Berschick: Die Pandemie hat als eine Art Brennglas fungiert und viele gesellschaftliche Probleme hervorgehoben. Als Gesundheitskrise hat sie deutlich gemacht, wie wichtig die eigene Gesundheit ist und welchen Stellenwert Gesundheitsförderung haben sollte. Körperliche Aktivität in diesem Zusammenhang ist eine wichtige Strategie bei der Bewältigung von Krisen und kann nachhaltig zu einer gesteigerten Resilienz beitragen. Studien zeigen beispielsweise, dass körperlich aktivere Menschen weniger unter den psychischen Folgen der Pandemie-bedingten Einschränkungen leiden.

Hinzu kommt, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus unter anderem zur sozialen Vereinsamung beigetragen haben. Dieser Umstand könnte den Bewegungsmangel zusätzlich verstärkt haben, weil Anlässe und Motivation für Bewegung fehlten. Wir stehen also weiterhin großen Herausforderungen gegenüber, insbesondere was die Langzeitfolgen der Pandemie betrifft. Gesundheitsförderung sollte hierbei als Teil der Lösung verstanden werden und in allen Lebenswelten Berücksichtigung finden.


Studierende sind die potenziellen Führungskräfte von morgen. Kann es durch den Hochschulsport gelingen, deren Gesundheitskompetenz zu steigern und den Weg zu ebnen, damit Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) zukünftig selbstverständlicher und flächendeckender in der Arbeitswelt umgesetzt wird?

Julia Berschick: Auf jeden Fall! Gesundheitsförderung im Hochschulsektor hat ein über das Setting hinausgehendes Potenzial: Studierende, als zukünftige Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sowie als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren eines gesundheitsorientierten Lebensstils, besitzen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen, die Kultur und Wertehaltungen. Nicht nur in Unternehmen, sondern auch in Organisationen, Schulen, Kitas oder auf kommunaler Ebene können Studierende gesundheitsförderliches Verhalten beeinflussen. Dieser Effekt wird insbesondere durch die im Hochschulsystem gemachten Erfahrungen determiniert. Gesundheitsbezogene Einstellungen können durch spezielle Angebote erweitert und gefestigt werden.

Dies zeigt sich eindrucksvoll in zahlreichen Projekten aus der Initiative 2.0. Durch Lehrmodule, Zertifizierungsprogramme, Workshopangebote und Aufklärungskampagnen werden den Studierenden an einigen Hochschulen Gesundheits- bzw. Bewegungskompetenzen vermittelt. Außerdem werden sie befähigt, selbstbestimmte Entscheidungen zur Förderung ihrer Gesundheit zu treffen und eine Teilhabe an beziehungsweise eine Mitsprache bei gesundheitsrelevanten Diskussionen, Themen und Fragestellungen einzufordern.


Was fordern Sie von der Gesundheitspolitik in der kommenden Legislaturperiode in Bezug auf Gesundheitsförderung im Setting Hochschule?

Julia Berschick: Im Juni 2019 wurde der erste Präventionsbericht der Nationalen Präventionskonferenz (NPK) veröffentlicht. Trotz des gesetzlichen Einbezugs der Lebenswelt Hochschule in das Präventionsgesetz und die Bundesrahmenempfehlungen der NPK bleiben Hochschulen im ersten Präventionsbericht weitestgehend unberücksichtigt.

In Zukunft sollten Hochschulen und der Hochschulsport nicht nur qua Gesetz, sondern vor allem auch bei der praktischen Umsetzung der nationalen Präventionsstrategie, insbesondere aufgrund ihrer wichtigen zuvor beschriebenen Funktion als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, stärker einbezogen werden. Zudem sollten Hochschulen Berücksichtigung im GKV-Leitfaden Prävention und in den Landesrahmenvereinbarungen finden. Nicht zuletzt sollte die Gruppe der jungen Erwachsenen Gegenstand der Überlegungen auf Gesundheitskongressen und beim jährlichen Präventionsforum der NPK sein, um das Potenzial derer zu entfachen, „die unser Land für seine Zukunft so sehr braucht“, wie es Bundespräsident Walter Steinmeier in seiner Rede an die Studierenden in Deutschland am 12. April 2021 treffend formuliert hat. An Argumenten für Gesundheitsförderung im Setting Hochschule mangelt es jedenfalls nicht!


Können wir uns vielleicht ein Beispiel an anderen Ländern nehmen? Falls ja, an welchen und weshalb?

Julia Berschick: Vorreiter ist definitiv die Initiative „European University for Well-Being (EUniWell), ein Zusammenschluss verschiedener europäischer Universitäten und Partner, die einen holistischen Ansatz verfolgen und nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft und Umwelt in den Fokus rücken. Adressiert wird hierbei das Wohlbefinden aller Hochschulangehörigen, aber auch der Gesellschaft im Allgemeinen.

Neben dem Gesundheitsverhalten einzelner Personen auch die strukturellen Bedingungen in den Blick zu nehmen und nachhaltige Veränderungen anzuschieben, ist zwar kein neuer Ansatz. Dennoch findet die Verhältnisprävention bislang wenig Beachtung in der Lebenswelt Hochschule. Hierin besteht ein großes Potenzial für die Gesundheitsförderung an Hochschulen, das es in Zukunft auszuschöpfen gilt!

Ein weiteres Beispiel ist der Active Campus Europe, ein europaweites Projekt der bewegungsorientierten Gesundheitsförderung für Studierende und Beschäftigte. Nicht zu vergessen das European Network of Academic Sport Service (ENAS), ein Netzwerk von europäischen Hochschulen, das einen Austausch und Unterstützung unter anderem zu gesundheitsbezogenen Themen und Maßnahmen ermöglicht.


Die Fragen stellten Linda Arzberger und Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitskompetenz (HealthLiteracy). Interview mit Prof. Dr. Kevin Dadaczynski, Professor für Gesundheitskommunikation und -information an der Hochschule Fulda, und Dr. Orkan Okan, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Interdiziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung an der Universität Bielefeld.

Prävention und Gesundheitsförderung –Schwerpunkt Gesundheitskompetenz (HealthLiteracy). Interview mit den HLS-GER 2 – Studienleiterinnen, Prof. Dr. Doris Schaeffer und Dr. Eva-Maria Berens vom Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) der Universität Bielefeld.

Interview zum Thema „Geschlechtersensible Prävention und Gesundheitsförderungmit Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Universität Bielefeld und Radboud Universität in Nijmegen (NL).

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung in den Lebenswelten erfahren Sie hier.

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Julia Berschick | Bewegungs- und Medienwissenschaftlerin; studentisches Vorstandsmitglied im Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband e.V. (adh); Projektkoordinatorin Studentisches Gesundheitsmanagement an der Universität Regensburg; Arbeitsschwerpunkte: strategische Weiterentwicklung des Themenfelds Gesundheitsförderung; Studentisches Engagement; Nachhaltigkeit.

Felicitas Horstmann | Sport- und Gesundheitswissenschaftlerin; Projektleiterin für Gesundheitsförderung beim Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband e.V. (adh); Arbeitsschwerpunkte: Betreuung der gemeinsamen Initiative mit der Techniker Krankenkasse „Bewegt studieren – Studieren bewegt! 2.0“; Qualifizierungsmaßnahmen Gesundheitsmanagement; Organisationsentwicklung.

Der Allgemeine Deutsche Hochschulsportverband e.V. (adh) ist der Dachverband der Hochschulsporteinrichtungen in Deutschland und repräsentiert 2,4 Mio. Studierende sowie 550.000 Bedienstete an seinen 203 Mitgliedshochschulen. Die Bundesgeschäftsstelle des Verbands hat ihren Sitz auf dem Campus der Hochschule Darmstadt in Dieburg.

Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Gesundheitskompetenz„Die Pandemie hat die Bedeutung von Gesundheitskompetenz deutlich gesteigert“

Gesundheitskompetenz hat eine hohe Relevanz bei der Bewältigung der Pandemie. Prof. Dr. Kevin Dadaczynski, Hochschule Fulda, und Dr. Orkan Okan, Universität Bielefeld, sprechen über die Schwierigkeit im Umgang mit Gesundheitsinformationen zum Coronavirus und darüber, wie wichtig es ist, informierte Entscheidungen für die Gesundheit zu treffen.

Die von Ihnen durchgeführte Onlinebefragung zur digitalen Gesundheitskompetenz in der Pandemie ergab, dass Studierende Probleme mit Gesundheitshinweisen zu Corona erleben. 42 Prozent der Befragten berichten von Schwierigkeiten, die Qualität der Gesundheitsinformationen zum Coronavirus zu bewerten. Warum wurde der Fokus auf Studierende gelegt?

Das ist eine berechtigte Frage, da man vielleicht aus der Distanz die Auffassung vertreten könnte, dass es sich bei Studierenden um eine Bevölkerungsgruppe mit hohem Bildungsstand handelt, die sich der besten Gesundheit erfreut. Wenn man sich aber etwas näher mit der Gruppe der Studierenden beschäftigt, wird klar, dass diese Annahme nicht so ohne weiteres trägt. Studierende gehören größtenteils zu einer Altersgruppe, die wir entwicklungs- und gesundheitspsychologisch als „Emerging Adults“, zu deutsch „sich entwickelndes Erwachsensein“, bezeichnen können.

Die Altersgruppe der 18 bis 29-Jährigen kann durchaus als Phase des Umbruchs und des Übergangs, der Transition, bezeichnet werden. Mit Aufnahme des Studiums ziehen junge Menschen nicht selten aus ihrem Elternhaus aus, beziehen möglicherweise ihre erste Wohnung, lernen eine neue Stadt kennen, nehmen Abschied von bisher gefestigten sozialen Netzwerken und stehen vor der Herausforderung, neue Netzwerke aufbauen zu müssen. Hinzu kommen die Anforderungen durch das Studium oder auch der Spagat zwischen Studium und Erwerbstätigkeit, um das Studium finanzieren zu müssen.

Auf Studierende haben wir auch deswegen geblickt, weil Corona die Schließung der Universitäten erwirkt hat, die Studierenden für das Lernen und Interagieren mit Peers und Familie in den digitalen, virtuellen Raum gezwungen und sie vom zentralen Arbeits- und Sozialraum abgeschnitten hat. Dies alles hat einerseits Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden nach sich gezogen und sie andererseits gezwungen, auf einmal wichtige Informationen ihre Gesundheit betreffend digital zu verhandeln.

Gleichzeitig hat die mediale Kommunikation zu Corona auch das Internet und die sozialen Medien dominiert und somit einen großen Platz in dem Raum eingenommen, in den Studierenden nun hineingezwungen wurden. Daher haben wir uns zwangsläufig die Frage gestellt: Welche Kompetenzen besitzen Studierende, um mit dem Wissen und der Information umgehen zu können? Wo suchen sie nach Informationen? Wie bewerten sie unterschiedliche Informationsquellen und welche Auswirkungen haben Gesundheitskompetenz und Corona auf ihr psychisches, körperliches und soziales Wohlbefinden?

Darüber hinaus steht Corona auch für eine unsichere Zukunft, für Angst und für das Ungewisse – auch für Studierende. Daher war für uns klar: Studierenden muss Aufmerksamkeit geschenkt werden! Im Übrigen muss auch die Annahme, dass es sich bei Studierenden zwangsläufig um eine Gruppe mit einem hohen sozioökonomischen Status handelt, in Frage gestellt werden. Kürzlich veröffentlichte Studienbefunde belegen auch für Studierende einen Sozialgradienten, wie wir ihn aus der sozialepidemiologischen Forschung mit anderen Bevölkerungsgruppen bereits kennen.

Wie bewerten Sie die Ergebnisse Ihrer Studie?

Dass 42% der befragten Studierenden über Schwierigkeiten berichten, die Vertrauenswürdigkeit und Qualität von gesundheitsbezogenen Informationen zu COVID-19 und verwandten Themen einzuschätzen, ist nicht ganz überraschend. Dieses Bild passt sehr gut in den gegenwärtigen Zeitgeist. So zeigen beispielsweise Ergebnisse anderer Studien zur Gesundheitskompetenz und auch zum gesundheitsbezogenen Informations- und Medienverhalten sowohl in Deutschland als auch international, dass Menschen insbesondere das kritische Bewerten und Hinterfragen von Informationen besondere Schwierigkeiten bereitet. Dies gilt mittlerweile auch über Altersgruppen hinweg.

In der Health Literacy-COVID-19 Studie bei Erwachsenen, in der die Coronavirus bezogene Gesundheitskompetenz in der frühen Phase der Pandemie untersucht wurde und deren Folgeerhebungen gegenwärtig in den Wellen zwei und drei in Deutschland, Österreich und der Schweiz stattfinden, haben wir ein sehr ähnliches Ergebnis vorgefunden.

Letztlich spiegelt das Ergebnis auch die aktuelle Informationswelt wider. Wir befinden uns in einer Welt, in der Informationen rund um die Uhr nur einen Mausklick entfernt sind. Informationen werden teilweise im Minutentakt produziert, veröffentlicht und geteilt, wodurch sie sich rasend schnell und unkontrolliert verbreiten. Dabei wiegt die Fülle, also das besonders große Aufkommen, genauso schwer, wie die Qualität der Information, wenn es um den Umgang mit Information geht. Im Zusammenhang mit diesem Aufkommen spricht man daher von einer Informationsepidemie, kurz: Infodemie, die die Corona-Pandemie begleitet.


Im Jahr 2018 wurde der „Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ entwickelt, vier Handlungsfelder wurden erörtert und 15 Empfehlungen abgeleitet. Sind wir auf einem guten Weg?

Die aktuelle Corona-Pandemie hat die Bedeutung von Gesundheitskompetenz noch einmal deutlich gesteigert und angesichts der Relevanz des Themas ist es ein guter Schritt in die richtige Richtung, dass der Nationale Aktionsplan Gesundheitskompetenz bereits im Jahr 2018 verabschiedet wurde. Seither sind zahlreiche weitere Forschungsbemühungen unternommen wurden. Gegenwärtig befindet sich der Aktionsplan in der zweiten Phase – die Phase der Implementation der Empfehlungen. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt. Neben dem Aktionsplan haben wir in Deutschland mit der Allianz Gesundheitskompetenz und dem Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention, dem Präventionsgesetz, zwei weitere gesundheitspolitische Ansätze, die Gesundheitskompetenz als wichtiges Gesundheitsziel definieren.

In diesen drei Ansätzen nimmt das Thema Bildung für Gesundheitskompetenz – in der Schule, Ausbildung von Lehrkräften, Erwachsenenbildung, Ausbildung von Fachkräften in Gesundheitsberufen, etc. – eine zentrale Rolle ein und damit auch im Kontext des tertiären Bildungsbereichs, also im Setting der Zielgruppe unserer Studie bei Studierenden. Natürlich brauchen diese Initiativen Unterstützung aus der Wissenschaft, Praxis und vor allem aus dem politischen Bereich. Aber es liegt noch ein großes Stück Arbeit vor uns, denn Gesundheitskompetenz muss aus unserer Sicht im Sinne des „Health in All Policies“ Ansatzes in allen Politikbereichen zum selbstverständlichen Bestandteil täglicher Entscheidungsprozesse werden.

Wie kann die Gesundheitskompetenz in Deutschland weiter gestärkt werden? Welche Rolle spielt dabei beispielsweise das neue Nationale Gesundheitsportal?

Informationsportale mit vertrauenswürdigen Informationen sind sehr wichtig, damit Menschen sich gut über Themen der Gesundheit informieren können. Das Nationale Gesundheitsportal und ähnliche Seiten sind daher zentrale Strategien, um die Gesundheitskompetenz in der Gesellschaft zu stärken. Was der Beitrag des Nationalen Gesundheitsportals sein kann, bleibt abzuwarten. Forschungsbefunde zeigen, dass öffentliche Gesundheitsinformationsplattformen im Vergleich zu kommerziellen Medienangeboten bislang leider weniger Aufmerksamkeit und Attraktivität erzeugt haben. Sie stehen letztlich in Konkurrenz zu Social Media & Co., so dass zu überlegen wäre, wie man diese Plattformen stärker zur Verbreitung qualitativ hochwertiger Gesundheitsinformationen nutzen könnte.

Die Stärkung von Gesundheitskompetenz sollte möglichst frühzeitig im Lebenslauf ansetzen, also bereits im Kindes- und Jugendalter. Der Forschungsverbund Gesundheitskompetenz im Kindes- und Jugendalter erforscht das Thema seit sechs Jahren. Gesundheitskompetenz ist aber noch nicht nachhaltig in Schule und Bildung angekommen. Erziehungs- und Bildungseinrichtungen sind besonders geeignet – und dies nicht nur, weil dort alle Heranwachsende ungeachtet ihres sozialen, kulturellen und ökonomischen Hintergrunds erreicht werden können, sondern auch, weil die Schule durch den gesetzlich festgeschriebenen Bildungsauftrag legitimiert wird.

Dabei darf man nicht vergessen, dass Gesundheitskompetenz nicht nur auf die individuelle Fähigkeit begrenzt werden kann, sondern auch das Ergebnis struktureller Rahmenbedingungen ist. So gilt es, Schulen gesundheitskompetent zu gestalten, also Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen Heranwachsende auch ihre individuelle Gesundheitskompetenz ausbauen können. Dazu zählt dann auch Gesundheitskompetenz in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, bei Schulleitungen, in Schulnetzwerken, im Curriculum, im Unterricht und Unterrichtsmaterialien zu verankern.

Dies gilt natürlich auch für alle anderen Settings, so auch für Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, die so zu gestalten sind, dass sich Patientinnen und Patienten dort gut orientieren und gesundheitsbezogene Informationen verstehen können. Wenn die Organisationen, mit denen Menschen interagieren, wie Arztpraxen, Krankenhäuser, Behörden etc. ihr Handeln und ihre Strukturen auf die Bedarfe von Menschen ausrichten, können sogar Effekte niedriger Gesundheitskompetenz abgefedert werden. Wenn Fachkräfte in der Gesundheit eine effektive, einfache und nutzerzentrierte Gesundheitskommunikation anwenden, profitieren auch Menschen mit einer niedrigen Gesundheitskompetenz davon. In beiden Fällen werden die gesundheitlichen Outcomes verbessert.

Es gibt also nicht den einen Weg, um die Gesundheitskompetenz zu stärken, sondern all diese Rädchen greifen ineinander, und es muss sowohl die personale Gesundheitskompetenz als auch die organisationale Gesundheitskompetenz gefördert werden. Idealerweise beginnen wir früh im Lebensverlauf und behandeln Gesundheitskompetenz als einen intergenerationalen und gesellschaftlichen Kreislauf.


Wie „riskant“ sind mangelndes Wissen und unzureichende Gesundheitskompetenz – insbesondere auch im Hinblick auf die Prävention von nichtübertragbaren Krankheiten (non-communicable diseases, NCDs)?

Vielleicht vorweg: Gesundheitswissen und Gesundheitskompetenz sind nicht inhaltsgleich, weisen aber deutliche Überschneidungen auf. Gesundheitswissen ist das Ergebnis der Fähigkeit, gesundheitsbezogene Informationen zu verstehen und setzt voraus, dass man diese Informationen zuvor auch gefunden hat. Beides sind Dimensionen der Gesundheitskompetenz.

Wissen über Gesundheit ist zweifelsohne eine wichtige Voraussetzung für Gesundheitsverhalten und damit letztlich für Gesundheit, aber das Gesundheitswissen allein ist nicht hinreichend, um Gesundheitsverhalten und Gesundheit zu erklären und nachhaltig zu verändern. Ein Beispiel: Dass der Nikotinkonsum gesundheitsabträglich ist, wissen die meisten Menschen, es hält sie aber nicht zwangsläufig vom Rauchen ab.

Gerade das Wissen muss in Handlungsroutinen überführt werden. Hierfür steht u.a. letztlich eine weitere Dimension „Anwenden von Gesundheitsinformationen auf den eigenen Lebensalltag“, weshalb Gesundheitskompetenz das umfassendere Konzept ist. Mangelndes Gesundheitswissen und Gesundheitskompetenz können dazu führen, falsche Entscheidungen zu treffen und/oder ungesunde Verhaltensweisen und Praktiken auszuführen. Dies kann in der Folge natürlich auch Kosten im Gesundheitswesen erhöhen.

Allerdings sprechen wir hier nicht ausschließlich über die personalen Kompetenzen, sondern auch über die Verhältnisse, die gesunde Entscheidungen, gesundes Verhalten und bessere Gesundheitschancen behindern können. Menschen sind in die vorgegebenen Verhältnisse eingebettet und die vorliegenden Strukturen müssen daher das Ziel von Interventionen und Politikmaßnahmen sein. Kompetenz und Verhalten – Wissen und Gesundheitskompetenz – können dann viel besser zur Geltung kommen, wenn die Bedingungen förderlich gestaltet sind. Das ist vor allem wichtig im Zusammenhang mit gesundheitlichen Ungleichheiten, die wiederum im Zusammenhang mit dem Auftreten von nichtübertragbaren Krankheiten (non-communicable diseases, NCDs) stehen.


Wie ist die Gesundheitskompetenz derzeit in den Lebensphasen innerhalb Deutschlands verteilt?

Studien, die in Deutschland bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurden, zeigen, dass die Gesundheitskompetenz in den jungen Altersgruppen eigentlich relativ hoch ist. In einer aktuellen Studie zeigte sich, dass mehr als 85% der 8- bis 11-jährigen Grundschulkinder auf Grundlage der Selbsteinschätzung eine ausreichende Gesundheitskompetenz aufweisen.

Bei Jugendlichen ist es ähnlich, auch wenn nicht ganz so hoch. Auch in internationalen Studien schneiden Jugendliche relativ hoch ab, allerdings haben  wir haben im Rahmen der Erstellung eines Fact Sheet Gesundheitskompetenz für die Schools for Health in Europe Foundation einmal alle Daten verglichen Der Anteil an Jugendlichen mit einer mittleren und niedrigen Gesundheitskompetenz sehr viel höher als bei Kindern. Das kann natürlich unterschiedliche Gründe haben und nicht zuletzt auch durch die Selbsteinschätzung zustande kommen. Jugendliche können, wie auch Erwachsene, die Herausforderungen im Umgang mit Information und Gesundheit realistischer einschätzen, haben mehr Erfahrung und bewerten daher ihre Kompetenz vielleicht anderes.

Erwachsene zeigen in Deutschland hingegen ein sehr viel ausdifferenzierteres Bild. Mit 54 Prozent hat ein relativ hoher Anteil der Bevölkerung eine problematische, also unzureichende Gesundheitskompetenz. Bezogen auf den Umgang mit Corona-Informationen sind es auch noch über 50 Prozent. Allerdings fallen bestimmte Aufgaben, wie das Finden und Verstehen von Corona-Informationen, den meisten Menschen sehr leicht. Auf der anderen Seite bereitet das Bewerten von Medien und Online-Informationen fast 50 Prozent der Bevölkerung sehr große Probleme. Bedenkt man, dass Gesundheitskompetenz ja zu einem Großteil das Bewerten und kritische Denken umfasst und gleichzeitig das Aufkommen von Fehlinformationen in allen Medienkanälen stark ansteigt, dann ist das ein hoch problematisches Ergebnis.


Die Fragen stellten Ulrike Meyer-Funke und Dr. Beate Grossmann, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Lesen Sie dazu auch:

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Gesundheitskompetenz. Interview mit den HLS-GER 2 – Studienleiterinnen, Prof. Dr. Doris Schaeffer und Dr. Eva-Maria Berens, vom Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK) der Universität Bielefeld. 

Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt Health in All Policies. Interview mit Prof. Dr. Ilona Kickbusch.

Mehr zu Prävention und Gesundheitsförderung erfahren Sie hier.

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Prof. Dr. Kevin Dadaczynski | Gesundheitswissenschaftler, Professor für Gesundheitskommunikation und -information an der Hochschule Fulda. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten, Gesundheitskompetenz und digitale Public Health. Er ist Mitglied der Leitung des Public Health Zentrums Fulda und des internationalen COVID-HL Konsortiums sowie Co-Chair der Forschungsgruppe des Schools for Health in Europe Network. Zudem gehört er dem HBSC-Studienverbund Deutschland an.

Dr. Orkan Okan | wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Erziehungswissenschaft und am Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Erforschung der Gesundheitskompetenz im Kindes- und Jugendalter und schulische Gesundheitsförderung. Er ist Vizepräsident der EUPHA Health Promotion Section, Co-Chair der Global Working Group Health Literacy der IUHPE und im Policy Board der IHLA sowie Mitherausgeber der Bücher „International Handbook of Health Literacy“ & „New Approaches to Health Literacy“.